
Analytische Psychologie
Zeitschrift für Psychotherapie und Psychoanalyse
Lebenslinien
Lifelines
Inhalt
Gustav Bovensiepen
Editorial
Anne Springer
Grußwort zum 50. Jahrgang der Zeitschrift
Verena Kast
Komplexe und Kompensation
Anregungen aus der affektiven Neurowissenschaft
Sue Austin
Zur Arbeit mit chronischen und unerbittlichen Formen von Selbsthass, Selbstverletzung und existentieller Scham (Teil 1)
Eine klinische Studie und Reflexionen
Psychosomatisches Forum
Bernd Gramich
Psychosomatische Krakheit als Entwicklungshemmung: Überwindung – Chronifizierung – Tod.
Betrachtungen am Beispiel der Essstörungen
Forschung
Wojciech Owczarski
Das Ritual der Traumdeutung im Konzentrationslager Auschwitz
Denkbild
Michael Lindner
Melancholie und Kontemplation
Roman Lesmeister
»Doch es kehret umsonst nicht unser Bogen, woher er kommt« (F. Hölderlin)
Gedanken zu Rückkehr, Wiederholung und Neubeginn im höheren Lebensalter
Elisabeth Grözinger
Kairos als Potential von Entwicklungsprozessen
Monika Rafalski
»Das (unerbittliche) Rad der vier Funktionen im Lauf des Lebens«
Aus dem Archiv der Analytischen Psychologie
Hans Dieckmann
Der Traum und das Selbst des Menschen
Kommentar
Dieter Treu
»... in einer kollektiv anders gearteten Atmosphäre«
Zu H. Dieckmanns »Der Traum und das Selbst des Menschen«
In memoriam
Theodor Seifert
Die prospektive Funktion
Filmbesprechung
Volker Münch
»Loving Vincent«
Laudatio
Eberhard Jung
Zum 80. Geburtstag von Dr. med. Kurt Höhfeld
Tagungsberichte
Daniel Läderach
70 Jahre C. G. Jung-Institut, Küsnacht – Zürich
Isabelle Meier
»Theoretical Foundations of the Analytical Psychology.
Recent Developments and Controversies«
18.–20. Oktober 2018 in Basel
Tanja Baar
Tagungsreflexion zur DGAP-Frühjahrstagung:
»Lebenslinien – Entwicklungen aus dem Selbst«, März 2018 in Herrsching
Werkstattbericht
Jens Preil und Ulrike Kluge
Ost-West-Gruppe: Eine ungleiche Matrix
DGAP Frühjahrstagung März 2018 in Herrsching
Buchbesprechungen
Förderpreis der Zeitschrift Analytische Psychologie
Vorschau
Richtlinien für Autorinnen und Autoren
Komplexe und ihre Kompensation
Anregungen aus der affektiven Neurowissenschaft
Welchen Einfluss hat es auf das Verständnis von Komplexen und Träumen und damit auf unser klinisches Arbeiten, wenn wir konsequent davon ausgehen, dass Grundlage der Persönlichkeit die Affektivität ist, wie C. G. Jung es verstand und wie es aktuell Jaak Panksepp, als führender Vertreter der affektiven Neurowissenschaft, versteht? Bringt die Idee von Panksepp, vorherrschende Emotionen durch sie kompensierende Emotionen anzureichern oder zu ersetzen, eine konstruktive Dynamik in die Stagnation, die mit konstellierten Komplexepisoden verbunden ist?
Schlüsselwörter: Emotionale Systeme, Komplexepisoden, Beziehungserfahrung, emotionale Ansteckung, positive Emotionen.
Sue Austin
Zur Arbeit mit chronischen und unerbittlichen Formen von Selbsthass, Selbstverletzung und existentieller Scham
Eine klinische Studie und Reflexionen
Dieser Text ist der erste einer zweiteiligen Serie, die sich theoretisch und empirisch auf meine Arbeit mit Menschen bezieht, deren Körper- und Selbstbezug von Selbsthass und von dem, was Hultberg als existentielle Scham beschreibt, dominiert ist. Teil I fokussiert den Selbsthass, Teil II wird die Scham in den Mittelpunkt stellen. Die Struktur des vorliegenden Textes ergibt sich aus Vignetten der vierzehnjährigen Analyse einer bulimischen und sich selbst verletzenden Frau. Er bringt Jungs Komplex- und Symbolkonzept mit Laplanches »rätselhaftem Signifikanten« zusammen, um die Erfahrung der »inneren Andersheit« herauszustellen. Jungs Ansicht, dass Emotionen die Hauptquelle des Bewusstseins seien und Laplanches Auffassung der Übertragung als ein »Hohlraum« korrespondieren im Text. Diese Ideen werden spekulativ mit sich entwickelnden Erkenntnissen der Neurowissenschaften über die Wahrnehmung verbunden.
Schlüsselwörter: Körperdysmorphie, Gegenübertragung, Emotion, Jung, Laplanche, Selbstverletzung, Selbsthass, Scham
Bernd Gramich
Psychosomatische Krankheit als Entwicklungshemmung: Überwindung – Chronifizierung – Tod
Betrachtungen am Beispiel der Essstörungen
Unter Zuhilfenahme von Kurzvignetten werden die unterschiedlichen psycho-
dynamischen Aspekte der Anorexie dargestellt, die insgesamt als eine Entwicklungshemmung und Entwicklungsblockade verstanden wird. Die begleitende schwere somatische und psychosomatische Regression in der Erkrankung und ihre Bedeutung für die Therapie werden erörtert. Neben der kausalen Perspektive wird die Möglichkeit der Überwindung unter dem finalen Gesichtspunkt – Krankheit zur Veränderung hin – herausgearbeitet. Aber auch die Möglichkeiten von Chronifizierung als pathologischer Konflikt-»Lösung«, das völlige Scheitern an überhöhten Idealen und an der Krankheit bis hin zum tödlichen Verlauf werden in ihrer Dynamik beschrieben.
Schlüsselwörter: Entwicklungshemmung, Anorexia nervosa, psychosomatische Regression, Kausalität und Finalität
Wojciech Owczarski
Das Ritual der Traumdeutung im Konzentrationslager Auschwitz
Diese Studie basiert auf den Zeugenaussagen ehemaliger KZ-Häftlinge aus Auschwitz, die 1973 bei polnischen Psychiatern eingereicht wurden. Die Befragten berichteten über den täglichen Lagerbrauch der Traumdeutung. Der Brauch, Träume in Auschwitz zu interpretieren, kann als ein komplexes und mehrstufiges Ritual beschrieben werden, das mindestens drei Dimensionen hatte: individuell, zwischenmenschlich und sozial. Auf der individuellen Ebene war dieses Ritual darauf ausgerichtet, die Zukunft der Häftlinge aufzuzeigen. Ein Gefangener, der einem Traumdeuter zuhört, konnte eine gute oder schlechte Prophezeiung erhalten, und diese Unsicherheit war der Kern des Prozesses. Die zwischenmenschliche Dimension dieses Rituals war mit dem Bedürfnis der Häftlinge verbunden, die Aufmerksamkeit anderer zu erregen. Auf der sozialen Ebene war das Teilen von Träumen eine gemeinschaftsbildende Aktivität. Dieser Artikel ist ein Versuch, das Auschwitz-Ritual der Traumdeutung im Lichte verschiedener Zweige der Kultur- und Traumforschung sowie Randall Collins’ Theorie der Interaktionsritualketten zu charakterisieren.
Schlüsselwörter: Holocaust, Träume von Auschwitz-Häftlingen, Träume teilen, Traumdeutung, Rituale
Roman Lesmeister
»Doch es kehret umsonst nicht unser Bogen, woher er kommt« (F. Hölderlin)
Gedanken zu Rückkehr, Wiederholung und Neubeginn im höheren Lebensalter
Ausgehend von zwei Dichtungen Friedrich Hölderlins werden einleitend die Metapher der Lebenslinien umkreist und die Schicksale von Liebe und Leiden im Zusammenhang mit Freuds Konzepten von Todestrieb und Wiederholungszwang entwickelt. Diese Ideen werden kontrastiert mit einer Auffassung von Wiederholung, die sich bei Kierkegaard findet. Die sich anschließenden Untersuchungen verorten den Ursprung des Lebensbogens und seiner Rückkehr nach drei Richtungen: Das Woher der lebensgeschichtlichen Vergangenheit, vor allem der Kindheit; das Woher des Unwandelbaren und immer Gegenwärtigen; das Woher des Zukünftigen. Eine besondere Akzentuierung erfährt dabei das auf Begrenzungen angewiesene Verständnis der lebenslangen Individuation, das es in Schutz zu nehmen gilt gegenüber technologischer Selbstoptimierung und transhumanistischen Unsterblichkeitsbestrebungen. Ein abschließender Teil der Arbeit widmet sich dem Gehalt der von Jacques Lacan psychologisch ausgearbeiteten Zeitform des Futur II, in dem Vorgriff auf Zukünftiges und Rückschau auf Gewesenes zusammenfallen.
Schlüsselwörter: Wiederholungszwang, Individuation, Tod, Transhumanismus, Futur II
Elisabeth Grözinger
»Kairos« als Potential von Entwicklungsprozessen
Es werden unterschiedliche Akzente im Gebrauch des Begriffs »Kairos« aufgezeigt, um dessen Spektrum auszuloten. Skizziert wird dann der Gebrauch des Terminus vor allem bei C. G. Jung und Paul Tillich, die beide – wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven – für einen kritischen bzw. reflektierten Umgang mit Kairos-Erlebnissen plädieren. Auf dem Hintergrund des Konzepts des »Hier und Jetzt« in der existentiellen Psychotherapie nach Irving Yalom sowie des philosophischen Konzepts der »Heterotopie« (Michel Foucault) kommt die analytische Praxis schließlich als Ort in den Blick, in dessen Schutz Kairos-Erlebnisse als »Fenster zum Selbst« begünstigt werden, deren Faszination erlebbar, aber mit Hilfe sowohl von Phantasie als auch solidem Handwerkszeug reflektierbar und integrierbar sein sollte.
Schlüsselwörter: Kairos, Heterotopie, Liverpooltraum, Identität, Archetyp des Selbst
Monika Rafalski
»Das (unerbittliche) Rad der vier Funktionen im Lauf des Lebens«
Überblick über die Entwicklung der vier Grundfunktionen Empfinden, Intuieren, Fühlen, Denken im Verlauf des individuellen Lebens vor dem Hintergrund des kollektiven Bewusstseins. Darstellung phasenspezifisch unterschiedlicher Anforderungen an die einzelnen Funktionen und ihre polaren Libidomodi von Intro- bzw. Extraversion, mit kurzen Fallvignetten. Gegenüberstellung des symbolisch-ganzheitlichen Erlebens des Kindes und des Erwachsenbewusstseins mit ausdifferenzierten Funktionen. Hervorhebung der Bedeutung des extravertierten Modus bezüglich Anpassung an kollektive Gegebenheiten; des introvertierten Modus bezüglich Verbindung zwischen Ich und Selbst. Hinweis auf Jungs Ausführungen zum »Subjektiven Faktor«.
Schlüsselwörter: Lebensphasen, Empfinden, Intuieren, Fühlen, Denken.