
Analytische Psychologie
Zeitschrift für Psychotherapie und Psychoanalyse
Krisenzeiten – Grenzerfahrungen
Time of Crises – Experiences at One's Limits
Inhalt
Elisabeth Grözinger
Editorial
Annette Simon
Deutsche Identitäten 30 Jahre nach dem Mauerfall
Assoziationen zu Vereinigung und Trennung
Reiner Manstetten
Selbstlos Töten im Namen des Einen
Mystik und die Ausrottung des Bösen in der Welt
Henry Abramovitch
Der Unterschied zwischen fundamentalistischem Denken
und terroristischer Gewalt
Essay
Roman Lesmeister
Die Leerheit kapitalistischer Weltbemächtigung: Butcher’s Crossing von John Williams
Denkbild
Stefan Wolf
Im Echoraum
Angelica Löwe
Das traumatisierbare Subjekt
Gedanken zum Individuationsparadigma im Werk von Doris Lessing und Imre Kertész
Uwe Langendorf
Acheronta movebo
Über die Grenzen des Begehrens, die Angst der Heiler und das Ende der Sicherheit
Susanna Wright
Blaubart die Stirn bieten
Totalitäre Regime in der Kindheit und der kollektiven Psyche
Vladimir Tsivinsky
Niemand kommt hier lebend heraus:
Das Märchen Blaubart in Therapie und Kultur
Monika Rafalsky
Krisen und Grenzerfahrungen im Prozess der Integration verletzter Grundfunktionen
Jungianische Identitäten (2)
Paul Brutsche
Über Jungs Grundanliegen, wie sie in seinen Lebenserinnerungen, in Träumen und im Turm zum Ausdruck kommen
Diskussionsforum
Lutz Müller
Thesen zur Archetypentheorie
Diskussionsforum
Annette Berthold-Brecht, Ralf T. Vogel, Regina Renn
Quo vadis, DGAP?
Susanne Eggenberger, Sandra Hügli, Eva Middendorp
Vom privaten Wohnhaus zum Museum »Haus C. G. Jung«
Tagungsbericht
Gerhard Burda, Isabelle Meier, Elisabeth Schörry-Volk
7. Forschungstag von Infap3 auf dem IAAP-Weltkongress 2019 in Wien
Werkstattbericht
Antje Feistel
Arbeitsgruppe Kontaktimprovisation – ein Erlebnisbericht
Buchbesprechungen
Vorschau
Förderpreis der Zeitschrift Analytische Psychologie
Richtlinien für Autorinnen und Autoren
Deutsche Identitäten
Assoziationen zu Vereinigung und Trennung
Zusammenfassung: Anhand von Assoziationen zu einem Ost/West-Traum der Autorin werden verschiedene Facetten des gegenwärtigen Standes der deutschen Vereinigung aufgeblättert. Die unterschiedlichen Alltagskulturen beider Seiten, die ab 1989 aufeinander trafen, werden in ihrer Entwicklung angesehen und charakterisiert; dabei wird auch die Verschiedenheit ostdeutscher Biographien betont. Was befürchten ostdeutsche Patienten, wenn sie zu einem Westanalytiker in Analyse gehen? Einerseits befürchten sie Entwertung und Beschämung, andererseits erwarten sie eher unbewusst eine Art Verführung durch Einfluss, Macht und Geld. Desweiteren wird die Trauer über den Verlust der DDR beschrieben als eine Trauer über den Verlust einer zwiespältigen Heimat und den Verlust von Utopie, aber auch als eine Trauer über nichtgelebte Möglichkeiten.
Schlüsselwörter: deutsche Vereinigung, Ost- und Westpatienten in der Psychoanalyse, Verführung, Trauer
Reiner Manstetten
Selbstlos töten im Namen des Einen
Mystik und Ausrottung des Bösen in der Welt
Zusammenfassung: Plotin, Meister Eckhart oder Isaak Luria werden Mystiker genannt, weil ihre Rede vom Einen offenbar aus lebendiger Erfahrung entspringt. Aber Mystiker sind auch die Figuren, mit denen sich die folgenden Überlegungen beschäftigen: Bernhard von Clairvaux, Ruhollah Chomeini und Shaku Soen. Es wird gezeigt, dass ihre Tendenz, im nicht verstandenen Anderen einzig die Verkörperung des Bösen zu sehen, und ihr Wille, dieses Böse zu vernichten, aus Wurzeln hervorgeht, die auf dem Boden der Mystik gedeihen. Im abschließenden dritten Teil werden Kurzschlüsse dieser Art von Mystik sichtbar gemacht. Besonders bedeutsam ist dabei der Begriff der Person. Mystik, recht aufgefasst, kann zu einem vertieften Verständnis der eigenen Personalität und der Personalität des Anderen führen. Wenn aber eine Mystik gelehrt und praktiziert wird, die dem Menschen die Fähigkeit nimmt, die Differenz zwischen der eigenen Person und der des anderen Menschen zu würdigen, sich dem anderen personal zuzuwenden, wird sie totalitäre Züge annehmen. Das wird deutlich im Wirken und in der Lehre der Mystiker, die hier näher betrachtet werden.
Schlüsselwörter: Mystik, Personalität, das Eine, das Böse, Totalitarismus
Henry Abramovitch
Der Unterschied zwischen fundamentalistischem Denken und terroristischer Gewalt
Zusammenfassung: Fundamentalismus strebt die Vereinheitlichung von Ideen sowie Konformität an; Selbstmordterrorismus entsteht aus Gruppenkonformität und strebt mit der psychischen Verschmelzung eine unterschiedslose Totalität an. Mithilfe von Jungs Dichotomie können wir feststellen, dass Fundamentalismus im Wesentlichen introvertiert ist – die psychische Energie ist nach innen gewendet. Terror dagegen ist extrovertiert und richtet seinen Fokus nach außen. Es ist sehr wohl möglich, die Bibel alleine, für sich zu lesen; es hat allerdings keinen Zweck, ein Selbstmordattentat alleine, für sich zu verüben. Fundamentalisten richten ihren Blick aufeinander und empfinden Gemeinsamkeit und Einheit. Selbstmordattentäter blicken zwangsläufig auf ihre Opfer und werden auch umgekehrt von ihnen angesehen. Dieser Blick trägt auch eine Intimität in sich; allerdings jene Art von Intimität, die dem Blick der Medusa innewohnt. Fundamentalismus kann sich im Laufe der Zeit ändern; ein Selbstmordattentat kann das nicht; es ist ein Moment, der gänzlich außerhalb jeder Zeit liegt.
Schlüsselwörter: Fundamentalismus, Terrorismus, Selbstmordattentäter, Verschmelzung, Kollektivierung
Angelica Löwe
Das traumatisierbare Subjekt
Gedanken zum Individuationsparadigma im Werk von Doris Lessing und Imre Kertész
Zusammenfassung: Angesichts der gegenwärtigen politischen Entwicklungen befragt die Autorin Jungs Individuationsbegriff, insbesondere den Gedanken, der vom Übergang von Ich zum Selbst spricht und immer an eine unumstößliche Teilhabe am Geschehen der Welt gebunden ist. Unter diesem Aspekt untersucht die Autorin das Romanwerk zweier Autoren, Doris Lessing und Imre Kertész, in der Absicht, Spuren der Individuation nachzuzeichnen: Hier interessiert die Autorin das Phänomen des Verstummens bzw. der Stummheit, bei dem das Selbst als eigenständiges Dialogprinzip die Richtung und den Inhalt des Schreibens vorgibt, wobei das Ich mehr und mehr zurücktritt. In einer letzten Frage behandelt die Autorin das Phänomen des Verstummens in der analytischen Praxis und diskutiert hierbei Bernets Rudolf Begriff des traumatisierbaren Subjekts, dessen Verfasstheit als asymmetrisches Dialogprinzip den Dialog zwischen Ich und Selbst bezeichnen kann.
Schlüsselwörter: Politik, Individuation, Ich-Selbst, Verstummen, traumatisierbares Subjekt, Rudolf Bernet
Uwe Langendorf
Acheronta movebo
Über die Grenzen des Begehrens, die Angst der Heiler und das Ende der Sicherheit
Zusammenfassung: Das therapeutische Dilemma schwer analysierbarer Grenzfälle verlangt eine Neubestimmung der analytischen Haltung. Diese leitet der Autor vom Ausgangspunkt der inneren Leere, Unbestimmtheit und Fremdheit des Anderen ab; er versteht Angst als analytische Grundbefindlichkeit und bezieht sich auf Freuds Todestriebtheorie, die er hypothetisch weiterentwickelt. Er fordert einen verstehenden Umgang mit Abstinenzverletzungen, die er als Flucht vor der Angst vor dem Scheitern versteht. Diese Angst ist ein Grundelement analytischen Arbeitens.
Schlüsselwörter: Analytische Haltung, Abstinenz, Todestrieb, Thanatos
Susanna Wright
Blaubart die Stirn bieten
Totalitäre Regime in der Kindheit und der kollektiven Psyche
Zusammenfassung: Ausgehend von dem Märchen Blaubart stellt die Autorin Überlegungen an, wie aus alltäglichen Kindheitssituationen, die seelenmörderische Aspekte bergen, Traumata hervorgehen können. So kann beispielsweise das totalitäre Regime eines Kindermädchens den Eltern, die von kollektiven gesellschaftlichen und kulturellen Normen beeinflusst sind, völlig verborgen bleiben. Ein Kind, das von der Mutter abgeschnitten ist und das einen Vater idealisiert, der ein mächtiges patriarchales System verkörpert, bleibt später in seiner eigenen Ehe möglicherweise naiv und abhängig und in weiterer Folge unfähig, mit der Realität menschlicher Aggression zurechtzukommen. Der vorliegende Text beschreibt die analytische Arbeit mit einer Frau, die immer wieder Zusammenbrüche erlitt und erst eine fragile, sozial konstruierte Identität hinter sich lassen musste, bevor sie ihre wahre Orientierung entwickeln konnte.
Schlüsselwörter: Blaubart, Patriarchat, Trauma, Geschlechterrollen und -normen, Kindermädchen, Zusammenbruch
Vladimir Tsivinsky
Niemand kommt hier lebend heraus
Das Märchen Blaubart in Therapie und Kultur
Zusammenfassung: In diesem Text verwende ich das Märchen von Blaubart, um bestimmte Mechanismen hervorzuheben, die einem analytischen Fallbeispiel und einigen kulturellen Phänomenen zu Grunde liegen. Ich beschreibe die Arbeit mit einer Patientin, deren Psyche in eine quälende, monströse Figur einerseits und ein kindliches Selbst andererseits dissoziierte, eine Spaltung also, die Kalsched durch eine Aktivierung archetypischer Abwehrmechanismen erklärt. Als ihr Analytiker musste ich Angriffe des destruktiven inneren Objekts der Patientin ertragen, die sie selbst mit Blaubart als Repräsentation einer schonungslosen Mordgier in Verbindung brachte. Auf kultureller Ebene wird Blaubart dem Konzept des totalitären Objekts (Sebek) und dem Pol der Grandiosität im russischen Kulturkomplex zugeordnet.
Schlüsselwörter: Blaubart, Jung‘sche Analyse, Dissoziation, archetypische Abwehrmechanismen, russischer Kulturkomplex.
Monika Rafalski
Krisen und Grenzerfahrungen im Prozess der Integration verletzter Grundfunktionen
Zusammenfassung: Beschreibung des Therapieprozesses einer Patientin mit energetisch überwertiger Denkfunktion, die zu Rationalisierungs-Abwehr und psychosomatischen Beschwerden führte. Durch Entfaltung ihres introvertierten Fühlens und Intuierens wird die Dissoziation zwischen intro- und extravertierten Grundfunktionen überwunden und das energetische Zusammenspiel der vier Funktionen ausgeglichen, wodurch die Patientin Lebensfreude und Vitalität gewinnt. Im Traum, im Sandspiel und in spontan gemalten Bildern aufgetauchte Symbole werden hinsichtlich ihrer Gegensätze vereinigenden Potenz und ihres mythologischen Hintergrundes amplifiziert und ihr Wirken im Sinne der transzendenten Funktion bei Transformation der neurotischen Dissoziation nachgezeichnet. Zusätzlich beachtet wird die Wechselwirkung zwischen Therapieprozess und Entstehen des Artikels.
Schlüsselwörter: Denken, Fühlen, Intuition, Dissoziation, Symbol, Amplifikation