
Analytische Psychologie
Zeitschrift für Psychotherapie und Psychoanalyse
Lebenszeit – Endlichkeit
Lifetime – Finitude
Inhalt
Angelica Löwe
Editorial
Roman Lesmeister
Ist »Zukunft« ein psychoanalytisches Konzept?
Gedanken zur Zeitlichkeit in der Psychoanalyse
Ralf Vogel
»Mit dem Leben sterben wollen«
Zur Empirie des Individuationsprozesses in Todesnähe
Ernst Bahner
Psychoanalyse und Zeitgeschehen
Diskussionsforum
Michael Péus
Einführung
Zum Offenen Brief einer Gruppe von Jungianern zum Thema »Jungs Schriften und Theorien über ›Afrikaner‹« und den Erläuterungen von A. Samuels
Offener Brief einer Gruppe von Jungianern zum Thema »Jungs Schriften und Theorien über ›Afrikaner‹«
Andrew Samuels
Erläuterungen zum Offenen Brief
Denkbild
Isabelle Meier
Darth Vader im Rückspiegel
Spielraum
Thomas Hellinger
Innere Bilder äußern
Bildprozesse aus künstlerischer Sicht
Sue Austin
Zur Arbeit mit chronischen und unerbittlichen Formen von Selbsthass, Selbstverletzung und existentieller Scham (Teil 2)
Eine klinische Studie und Reflexionen
Isabelle Meier
Über unerfüllte Bedürfnisse und gefühlsbetonte Komplexe
Ein Vergleich mit den Schemata der Schematherapie
Marie-Luise Alder und Stephan Alder
Gruppenanalytische und interaktionsanalytische Perspektiven auf Großgruppenprozesse während der psychohistorischen Trialog-Konferenzen 2015 und 2017
Interview
Elisabeth Grözinger im Gespräch mit Verena Kast
Jungianische Identitäten
Stefan Wolf
Zur Einführung
Jungianische Identitäten (1)
Ingrid Riedel
Mein Ort im Raum der Jung’schen Psychologie
Diskussionsforum
Martin Roser
Gedanken zu einer Fehlerkultur in der psychoanalytischen
Theorie und Praxis
Diskussionsforum
Die Jung-Wilber-Kontroverse
Lutz Müller
Gedanken zum Aufsatz von David Stötzner »Archetyp und Spiritualität – Jung und Wilber im Dialog«
David Stötzner
Erwiderung zum Diskussionsbeitrag von Lutz Müller
Filmbesprechung
Volker Münch
Game of Thrones
Laudatio
Roman Lesmeister zum 70. Geburtstag
Nachrufe
Dr. med. Wolfram Keller (1944–2019)
Günter Langwieler (1951–2019)
Trauerrede für Günter Langwieler
Buchbesprechungen
Förderpreis der Zeitschrift Analytische Psychologie
Vorschau
Richtlinien für Autorinnen und Autoren
Ist »Zukunft« ein psychoanalytisches Konzept?
Gedanken zur Zeitlichkeit in der Psychoanalyse
Die Arbeit fragt nach den Konzeptualisierungen von Zukunft und Zukünftigkeit in der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Ausgehend von Ansätzen bei Freud, Lacan, Jung und Bollas werden dazu Überlegungen entwickelt. Bei Freud dominiert einerseits die Idee der Zeitlosigkeit des Unbewussten, andererseits steht Zukunft unter den Zeichen von Endlichkeit, Todestrieb und Wiederholungszwang. Lacan verdichtet Zukünftiges und Vergangenes in einem komplexen Konzept von Nachträglichkeit. Die »abgeschlossene Zukunft« (Futur II) wird zur charakteristischen psychologischen Zeitform des Unbewussten. Jungs Konzepte von Finalität und Individuation werden mit einem Begriff von Bestimmung (destiny) parallelisiert, der sich im Werk von Christopher Bollas findet. Zukunft als Entwicklungsperspektive wird dadurch offen und als Möglichkeitsraum für seelische Transformation und Neubeginn gedacht. Den Abschluss der Betrachtungen bilden Anwendungen auf Fragen analytischer Haltung und Technik.
Schlüsselwörter: Zukunft, Wiederholungszwang, Nachträglichkeit, Finalität, Bestimmung.
Ralf Vogel
»Mit dem Leben sterben wollen«
Zur Empirie des Individuationsprozesses in Todesnähe
C. G. Jungs Individuationstheorie ist die theoretische und praktische Klammer über die Kernkonzepte der Analytischen Psychologie. Als Lebensaufgabenmodell entspricht es modernen entwicklungspsychologischen Erkenntnissen und lässt sich als solches auch auf die letzte Lebenszeit und die Sterbephase anwenden. Dazu werden Erkenntnisse aus der aktuellen akademischen – v. a. thanatopsychologischen – Forschung herangezogen, die eine erste empirische Fundierung des Individuationskonzeptes erlauben. Dadurch wird das Individuationskonzept auch als eine moderne Form einer ars vivendi und gleichzeitigen ars moriendi deutlich.
Schlüsselwörter: Individuation, Thanatopsychologie, Tod, Sterben, Forschung
Ernst Bahner
Psychoanalyse und Zeitgeschehen
Wenn sich Psychoanalytiker/innen bewusst als Reflexionsort der allgemeinen Kulturentwicklung verstehen wollen – unbewusst sind sie es immer–, wird ihnen dazu von ihrer Wissenschaft die ausreichende kognitive Struktur zur Verfügung gestellt?
Das Zeitgeschehen beinhaltet eine fortwährende Entwicklung der Kulturen; wie reagiert das psychoanalytische Denken darauf epistemologisch? Psychoanalytiker*innen sind Akteure und Bestandteil dieses Kulturwandels. Bezugspunkte der vorliegenden Betrachtung sind: Globalisierung, Multipolarität, Vielfalt der Kulturen, Wandel der Organisation von Arbeit und ihre Folgen für die Entwicklung der Subjekte. Welche Folgen kann das Begreifen dieses Kulturwandels für Denken und Handeln der Psychoanalytiker/innen als Agenten in dieser Kultur haben?
Schlüsselwörter: Globalisierung, Multipolarität, Vielfalt der Kulturen, sich ändernde Arbeitsorganisation und ihre Folgen für die Entwicklung der Subjekte, Veränderung der psychoanalytischen Erkenntnistheorie.
Sue Austin
Zur Arbeit mit chronischen und unerbittlichen Formen von Selbsthass, Selbstverletzung und existentieller Scham (Teil 2)
Eine klinische Studie und Reflexionen
Dieser zweite von zwei Texten konzentriert sich auf die Scham, die in den ersten 14 Jahren Analyse bei einer bulimischen Frau auftrat, die sich selbst verletzte und sich selbst wiederholt so beschrieb: »Fühle mich wie ein Stück Scheiße.« Um diese intensive Scham zu untersuchen, beziehe ich mich auf Jung sowie auf Hinweise von Laplanche zu Erfahrungen mit unauflösbarer, nicht-pathologischer »Fremdheit« oder »Andersheit« im Kern der Psyche. Bilder, Metaphern, Elemente klinischer Erfahrungen und Arbeitshypothesen aus einer Reihe von analytischen Traditionen werden zur Ausarbeitung verwendet: Dies schließt Kilbornes Gebrauch von Pirandellos Bild der Scham als das eines »Loches im Papierhimmel« ein, welches auf einen Riss in der Subjektivität verweist und das Illusorische unseres Glaubens an die Wirksamkeit des Selbst offenbart. Hultbergs Betrachtungen zu Scham, der er eine existentielle Qualität (Funktion) zuspricht, werden untersucht sowie die Natur analytischer Wahrheit. Mit Hilfe dieser Ideen beschreibe ich den Prozess meiner Patientin hin zum Auffinden von einigen kleinen, aber befreienden Räumen in Bezug auf ihre Scham und ihren Selbsthass. Durch das Ertragen ihrer Scham und eines damit verbundenen Lernprozesses in der Analyse erkannte sie, dass dies Teil eines verzweifelten unbewussten Versuches war, sich ihrem sorgenschweren Vater zu nähern und ihn so »besser zu lieben«.
Schlüsselwörter: Scham, Selbsthass, Selbstverletzung, Gegenübertragung, Scheiße, analytische Wahrheit, Jung, Laplanche
Isabelle Meier
Über unerfüllte Bedürfnisse und gefühlsbetonte Komplexe
Ein Vergleich mit den Schemata der Schematherapie
Wenn das Thema der Komplexe in den Mittelpunkt rückt, fällt auf, dass Vorstellungen in Psychologie, Psychoanalyse, Analytischer Psychologie und Verhaltenstherapie in ähnliche Richtungen zielen, was in der jungianischen Literatur bereits vermerkt wurde. Während wir aber von Komplexen sprechen, sprechen diese von Schemata. Auch hinsichtlich der Ursache von Schemata oder Komplexen lassen sich interessante Parallelen feststellen. In diesem Beitrag möchte ich den bereits begonnenen Vergleich von Schemata und gefühlsbetonten Komplexen weiter vertiefen und dabei das zentrale Thema der Grundbedürfnisse aufgreifen.
Schlüsselwörter: Gefühlsbetonte Komplexe, Schema, Grundbedürfnisse, Motivationen, Beziehungsmuster, Komplextheorie.
Marie-Luise Alder und Stephan Alder
Gruppenanalytische und interaktionsanalytische Perspektiven auf Großgruppenprozesse während der psychohistorischen Trialog-Konferenzen 2015 und 2017
Gruppen- und interaktionsanalytische Überlegungen zu Konzepten wie denen der Großgruppenidentität (Volkan, 2000, 2015), dem kulturellen Komplex (Singer und Kimbles, 2008), der Matrix (Foulkes, 1992) und dem Common Ground (Tomasello,1999) werden vorgestellt. Die Grundlage bilden Protokolle von zwei Trialog-Konferenzen, die über jeweils vier Tage in den Jahren 2015 und 2017 in Potsdam stattfanden. Gearbeitet wurde mit Teilnehmenden aus Russland, der Ukraine und Deutschland, in gruppenanalytisch geleiteten Klein- und Großgruppen. Schwerpunkt bildete der Austausch persönlicher Erfahrungen vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Geschichte und Gegenwart. Interaktionsanalytisch kann gezeigt werden, wie die Common-Ground-Aktivität die Kohäsion der Gruppe fördert und Metaphernbildung die Realisierung der Matrix ermöglicht.
Schlüsselwörter: Gruppenanalyse, Interaktionsanalyse, Common-Ground-Aktivität, Metaphern, Humor.