Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie
Zeitschrift für Psychoanalyse und Tiefenpsychologie
Adoleszenz und Suizidalität
Printausgabe – Heft 173, 48. Jg., 1/2017
Inhalt
Vorwort
Jürgen Kind
Suizidale Interaktionen – zur Bedeutung der Suizidalität als Mittel der Beziehungsgestaltung
Benigna Gerisch
Zur Identifikation mit der imaginierten Mutter
Adoleszente suizidale Phantasmen zwischen Deprivation, Separation und Selbstwerdung
Jeanne Magagna
Angriffe auf das Leben: Suizidalität und selbstverletzendes Verhalten junger Menschen
Björn Nolting
Selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität bei Adoleszenten
Behandlung im stationären Setting
Buchbesprechungen
Die Autorinnen und Autoren des Heftes
Ankündigungen
Jürgen Kind
Suizidale Interaktionen – zur Bedeutung der Suizidalität als Mittel der Beziehungsgestaltung
Üblicherweise wird unter dem Stichwort »Suizidalität« die Entwicklung hin zu einem bevorstehenden radikalen Beziehungsabbruch verstanden. Das kann zu der Vorstellung führen, dass der suizidale Patient über nichts anderes mehr als gegen sich gerichtete Todeswünsche verfüge. Im Kontrast dazu meinen Therapeuten häufig, ausschließlich von konstruktiven Helferimpulsen erfüllt sein zu dürfen, womit sie sich überfordern.
In diesem Artikel wird gezeigt, dass wir es bei dieser Aufteilung nicht stehen lassen können. Auch im Patienten bestehen konstruktive, beziehungssuchende Impulse, und auch im Therapeuten bestehen destruktive, gegen den Patienten gerichtete Impulse. Erst beides zusammengenommen und aufeinander bezogen macht die suizidale Dynamik verständlich.
Schlüsselwörter: suizidale Objektbeziehung, Borderline-Funktionsniveau, Arzt-Patient-Beziehung.
Benigna Gerisch
Zur Identifikation mit der imaginierten Mutter
Adoleszente suizidale Phantasmen zwischen Deprivation, Separation und Selbstwerdung
Autodestruktives und insbesondere suizidales Erleben und Handeln sind nicht nur paradigmatisch für die Phase der adoleszenten Entwicklungskrise, sondern seit jeher mit einer eklatanten und konstanten Geschlechtsspezifität verknüpft: Männer/Jungen, und dies gilt weltweit, suizidieren sich mehr als doppelt so häufig wie Frauen/Mädchen, während umgekehrt eben jene mehr als doppelt so viele Suizidversuche wie ihre männlichen Geschlechtsgenossen unternehmen. In diesem Beitrag werden daher zunächst die entwicklungspsychologisch relevanten, psychodynamischen Konzepte ausgefaltet, die sich mit den geschlechtsspezifisch divergierenden autodestruktiven Körperpraktiken wie Essstörungen und Suizidalität befassen, in denen die Bedeutung des Körpers und seiner je unterschiedlichen Integrations- und Anerkennungsprozesse eine wesentliche Rolle einnimmt. Aus dieser Perspektive betrachtet können die verschiedenen Symptomatologien der weiblichen Adoleszenz als Ausdruck und Reinszenierung eines unbewältigten Separations- und Individuationsprozesses einschließlich der misslungenen oder unzureichenden Anerkennung der Tatsache, einen sexuell voll funktionsfähigen Körper zu besitzen, verstanden werden. Essstörungen und Suizidhandlungen basieren dabei auf ein und derselben Phantasiestruktur und zentrieren sich um Fusionswünsche mit der imaginiert-idealisierten Mutter und Abgrenzungsbestrebungen gegenüber dem destruktiven mütterlichen Objekt im Dienst der Aufrechterhaltung des Selbst. Anhand der Kasuistik einer schwer traumatisierten, spätadoleszenten Patientin werden die verschiedenen Bedeutungsdimensionen ihres suizidalen Erlebens und Agierens sowie ihre psychische Arretierung angesichts einer immerzu allgegenwärtigen, indes unbekannten und hochidealisierten Phantommutter i. S. einer Doppelidentifikation exemplifiziert.
Schlüsselwörter: Suizidalität, Deprivation, Separation, Selbstentwicklung, Geschlechtsidentität.
Björn Nolting
Selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität bei Adoleszenten
Behandlung im stationären Setting
Selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität bei Adoleszenten ist ein voneinander zu unterscheidendes häufiges und sehr komplexes Phänomen. Am Beispiel des stationären psychotherapeutischen Verlaufs einer 18-jährigen Patientin, bei der im Behandlungsverlauf selbstverletzendes Verhalten neu auftritt, werden unterschiedliche psychodynamische Ursachen des selbstschädigenden Verhaltens herausgearbeitet. Der psychotherapeutische Umgang einer tiefenpsychologisch-analytisch arbeitenden psychosomatischen Station für die Behandlung von selbstschädigendem Verhalten wird aufgezeigt. Hierbei kommen psychodynamische, psychotraumatologische und verhaltenstherapeutische Interventionen zur Anwendung. Die Analyse der Gegenübertragung kann dabei als Schlüssel zum Verständnis der Ursachen des selbstschädigenden Verhaltens dienen und sich sehr hilfreich auf den Behandlungsverlauf und den Therapieerfolg auswirken.
Schlüsselwörter: Selbstverletzung, Suizidgedanken, Jugendlichenpsychotherapie, Gegenübertragung.