Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie
Zeitschrift für Psychoanalyse und Tiefenpsychologie
Geschwister
Printausgabe – Heft 186, 51. Jg., 2/2020
Inhalt
Vorwort
Inge-Martine Pretorius
»Vom Egoismus zur Freudschaft und Teilnahme an einer menschlichen Gemeinschaft«
Anna Freuds Verständnis der Geschwisterbeziehungen
Susann Heenen-Wolff
Brüderlichkeit und Destruktivität in der Geschwisterbeziehung
Georg Romer
»Brüderlich und schwesterlich« – Psychodynamische und familiendynamische Aspekte der Geschwisterbeziehung
Ellen Lang-Langer
Eine Erfahrung von Verlust in der vorgeburtlichen Zeit im Spiegel von Übertragung und Gegenübertragung
Aus der Behandlung eines bei Behandlungsbeginn achtzehnjährigen jungen Mannes
Marianne Leuzinger-Bohleber
Loving Vincent
Entwicklungspsychologische und psychoanalytische Überlegungen zur Ambivalenz in Geschwisterbeziehungen
Forum
Rita Weber-Stehr
Geschwister: sich lieben und bekriegen, verbunden ihr Leben lang
Buchbesprechungen
Die Autorinnen und Autoren des Heftes
Ankündigungen
»Vom Egoismus zur Freudschaft und Teilnahme an einer menschlichen Gemeinschaft«
Anna Freuds Verständnis der Geschwisterbeziehungen
Dieser Artikel zeichnet Anna Freuds wachsendes Verständnis der Beziehungen zwischen Geschwistern von ihrer ersten psychoanalytischen Veröffentlichung »Schlagephantasie und Tagtraum« (A. Freud, 1980 [1922]), über die Jackson Kinderkrippe in Wien, die Hampstead War Nurseries in London bis zur Arbeit in der Nachkriegszeit nach. Ihr Verständnis der Entwicklung von Geschwisterbeziehungen kulminierte in der Entwicklungslinie »vom Egoismus zur Freundschaft und Teilnahme an einer menschlichen Gemeinschaft« (A. Freud, 1968 [1965],
S. 80). Sie zeichnet die Entwicklung von der egozentrischen Weltsicht des Kleinkindes über das gemeinsame Spiel mit Altersgenossen bis zur Teilhabe am Gemeinschaftsleben und zur Ambivalenzfähigkeit nach.
Schlüsselwörter: Anna Freud, Geschwisterbeziehungen, Entwicklung in der Kindheit, Entwicklungslinie, Kinderpsychotherapie, Trennungsreaktionen.
Susann Heenen-Wolff
Brüderlichkeit und Destruktivität in der Geschwisterbeziehung
Die integrativen und assimilatorischen Tendenzen der modernen Gesellschaft beruhen auf »Brüderlichkeit«, was auf die Geschwisterebene verweist. Geschwister sind füreinander primäre Anlehnungs- und Besetzungsobjekte mit all den möglichen positiven und negativen Affekten, die damit einhergehen können. Die Ich-Funktionen werden vom Austausch mit den Geschwistern stark stimuliert, aber auch die infantile Sexualität. In der Adoleszenz kann es zwischen Schwester und Bruder zu sexuellen Übergriffen kommen, die gesellschaftlich immer noch sehr tabuiert sind. Wie erklärt sich, dass aus Geschwisterbeziehungen – so oft von Eifersucht und Rivalität geprägt – Brüderlichkeit entstehen kann?
Schlüsselwörter: Horizontalität, Primärobjekt, infantile Sexualität, Inzest, Brüderlichkeit.
Georg Romer
»Brüderlich und schwesterlich« – Psychodynamische und familiendynamische Aspekte der Geschwisterbeziehung
Geschwisterbeziehungen sind die längsten Beziehungen in der Lebensspanne. In diesem Beitrag wird der psychoanalytische und familientherapeutische Diskurs zur Geschwisterbeziehung aufgegriffen und in seiner Bedeutung für die psychotherapeutische Arbeit vertieft. Die Bedeutung horizontaler Beziehungserfahrungen für die psychische Entwicklung wird im Lichte aktueller psychoanalytischer Konzepte dargestellt. Hierbei wird die protektive Bedeutung intakter Geschwisterbindungen als haltgebende Ressource betont. Geschwisterliche Ambivalenz wird als normaler und wichtiger Motor sozialer Entwicklung verstanden, ebenso wie das Streben nach horizontaler Individuation unter Geschwistern. Es wird in Anlehnung an die Arbeiten Hans Sohnis die These vertreten, dass klinisch bedeutsame destruktive Geschwisterdynamiken nicht im Wesen normaler geschwisterlicher Ambivalenz angelegt sind, sondern durch vertikale Setzungen in der Eltern-Kind-Beziehung induziert werden. Dysfunktionale Geschwisterdynamiken wie Hass, Neid und Rivalität sowie die spezielle Dynamik, die dem Phänomen Geschwisterinzest zugrunde liegt, werden diskutiert. Praktische Anregungen für die Einbeziehung von Geschwistern in familientherapeutischen Prozessen werden zusammengefasst. Anhand von zwei familientherapeutischen Fallbeispielen werden klinische Relevanz und therapeutische Implikationen der beschriebenen theoretischen Konzepte vertiefend diskutiert.
Schlüsselwörter: Geschwisterbeziehung – Geschwisterrivalität – Geschwister-Subsystem – Geschwister in der Familientherapie – Geschwisterinzest.
Ellen Lang-Langer
Eine Erfahrung von Verlust in der vorgeburtlichen Zeit im Spiegel von Übertragung und Gegenübertragung
Aus der Behandlung eines bei Behandlungsbeginn achtzehnjährigen jungen Mannes
In dieser Arbeit geht es um die Behandlung eines jungen Mannes, dessen Zwillingsbruder bei der Geburt starb. In einem dramatischen Behandlungsprozess drängen die allerfrühesten Themen an und verschaffen sich in Übertragung und Gegenübertragung Ausdruck.
Schlüsselwörter: Übertragung, Gegenübertragung, vorgeburtliche Zeit, Zwilling, Geburt.
Marianne Leuzinger-Bohleber
Loving Vincent
Entwicklungspsychologische und psychoanalytische Überlegungen zur Ambivalenz in Geschwisterbeziehungen
Der eindrückliche Film von Dorota Kobiela und Hugh Welchman (2017) über einen Brief von Vincent van Gogh an seinen Bruder Theo, der erst nach seinem Tod gefunden wurde, dient als Einstieg einiger psychoanalytischer Überlegungen zur Ambivalenz in Geschwisterbeziehungen. Im Hauptteil wird anhand des Konzepts des Embodiments diskutiert, dass die archaische Dimension früher Geschwisterbeziehungen in aktuellen Beziehungen in Peergroups (in Forschungsgruppen, Arbeitsbeziehungen, Freundschaften) unbewusst wiederbelebt werden und zur unerkannten Quelle von intensiven Sehnsüchten, Phantasien und Konflikten werden kann. Anhand einiger Beobachtungen aus dem Pilotprojekt »STEP-BY-STEP« zur Unterstützung von Geflüchteten in der Erstaufnahmeeinrichtung »Michaelisdorf« in Darmstadt wird zudem illustriert, welchen entscheidenden Einfluss traumatische Erfahrungen auf Geschwisterbeziehungen ausüben. Zum Schluss wird ein Plädoyer für einen psychoanalytisch inspirierten Umgang mit Geschwisterrivalitäten formuliert, der mir in Zeiten eines Wiederauflebens einer »schwarzen Pädagogik« immer wieder bedroht bzw. vergessen zu werden scheint.
Forum
Rita Weber-Stehr
Geschwister: sich lieben und bekriegen, verbunden ihr Leben lang
Was hat es auf sich mit geschwisterlicher Verbundenheit und der ihr innewohnenden Ambivalenz, wie entsteht sie und woraus speist sie sich? Wenn wir erleben, wie heftig Geschwister streiten, dann aber die liebevollen Blicke und Berührungen zwischen den kleinen und größeren Geschwistern beobachten, erfahren wir die Widersprüchlichkeit einer liebevollen und zugleich aggressiven Bezogenheit.
Geschwisterliche Ambivalenz speist sich aus dem tief wurzelnden Gefühl gemeinsamer Verbundenheit mit den allerwichtigsten Menschen, mit Vater und Mutter, die man aber auch schmerzlich teilen muss. Dies erklärt, dass Liebe und Wut, große Vertrautheit und heftige Abgrenzung so nahe beieinander liegen. Immer und besonders in der Kindheit und Jugend sind geschwisterliche Beziehungen nur im Kontext mit denen der Eltern zu verstehen. Die Eltern können das Wachsen lebendiger geschwisterlicher Beziehungen befördern, können aber auch eine aus Not geborene geschwisterliche Nähe entstehen lassen, der man ein Leben lang nicht entfliehen kann. Sie können auch Rivalität und Neid in den Vordergrund treten lassen, die in überwiegend negativen Bindungen gefangen halten.
Geschwisterliche Beziehungen sind die längsten überhaupt. Sie lösen sich im Laufe des Lebens stärker von den Beziehungen zu den Eltern und werden eigenständiger. Allerdings beeinflussen die in Kindheit und Jugend verinnerlichten Geschwistererfahrungen auch die Tönung von Freundschafts- und Partnerwünschen, z. B. in der Art der Konfliktbewältigung. Geschwister stellen auch später eine emotionale Verbindung zur eigenen Kindheit, die man mit keinem anderen so teilen kann.
Schlüsselwörter: Ambivalenz, Eifersucht, Geschwisterdynamik, Geschwisterliebe, Liebe, Geschwisterrivalität.