Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie
Fachzeitschrift für Psychoanalyse und Tiefenpsychologie
Gegenwartsmomente
E-Journal (pdf) – Heft 202, 55. Jg., 2/2024
Inhalt
Vorwort
Beitrag 1
Anna Kravtsova
Die innere Welt bewahren, wenn die äußere zusammenbricht.
Das psychische Überleben ukrainischer Patientinnen und -patienten im Kindesalter in der psychoanalytischen Therapie und ihrer Therapeutinnen und Therapeuten unter
den Bedingungen von Krieg und Migration
Beitrag 2
Claudia Burkhardt-Mußmann
Versäumnisse, Einschüchterung und Schweigen – sexuelle Gewalt an Kleinkindern
Beitrag 3
Angelika Staehle
Gegenwärtige Herausforderungen an die Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalyse
Was bleibt und was hat sich verändert?
Beitrag 4
Simone Hees
Ungewissheit – Hoffnung: Gegenwartsmomente in der analytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie
Beitrag 5
Matthias Sonnenburg
Auf den Schultern von Daniel N. Stern: eine Identität für die Zukunft der Psychoanalyse oder: Was bleiben will, muss sich ändern
Beitrag 6
Judith Noske
Augenblicke in psychotherapeutischen Prozessen mit Kindern und Jugendlichen
Versuche des Einfassens und Bedeutung-Gebens
Nachruf auf Klaus Aichele
Buchbesprechungen
Die Autorinnen und Autoren des Heftes
Ankündigungen
Die innere Welt bewahren, wenn die äußere zusammenbricht.
Das psychische Überleben ukrainischer Patientinnen und -patienten im Kindesalter in der psychoanalytischen Therapie und ihrer Therapeutinnen und Therapeuten unter den Bedingungen von Krieg und Migration
Der brutale Krieg, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat, hat die grundlegenden Dinge für die Entwicklung der inneren Welt des Kindes infrage gestellt – die Sicherheit, die Stabilität und die Berechenbarkeit. Auch die psychoanalytischen Kindertherapien, die in den Friedenszeiten dazu beitrugen, diese grundlegenden Dinge in der inneren Welt des Kindes zu stärken, waren nun zerstörungs- und brandgefährdet. Die ukrainischen Kindertherapeutinnen und -therapeuten und ihre kleinen Patientinnen und Patienten sind gezwungen, gemeinsam die Schläge zu überwinden, die die Städte und die Psyche zerstören. Tatsächlich ist die Situation so, dass die traumatisierten Kindertherapeutinnen und -therapeuten mit den traumatisierten kleinen Patientinnen und Patienten arbeiten, oft mit der Unterstützung von traumatisierten Supervisoren und Kolleginnen und Kollegen in den Intervisionsgruppen. Einige Therapien werden aus der Ferne durchgeführt, weil der Krieg die Therapeutinnen und Therapeuten, die jungen Patientinnen und -patienten und ihre Familien getrennt hat.
Schlüsselwörter: Trauma, Krieg, Trennung, Angst, Supervision.
Claudia Burkhardt-Mußmann
Versäumnisse, Einschüchterung und Schweigen – sexuelle Gewalt an Kleinkindern
»Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass bis zu einer Million Kinder und Jugendliche in Deutschland bereits sexuelle Gewalt durch Erwachsene erfahren mussten oder erfahren. […] Viele dieser Fälle gehen nicht in die Kriminalstatistik ein, weil sie nie zur Anzeige gebracht werden, und bilden sich auch ansonsten nicht im Hellfeld ab.« (UBSKM, 2023, o. S.). Die Frage, warum so viele Fälle im Dunkelfeld bleiben, ist das Thema, dem diese Arbeit nachgeht. Anhand von zwei Fallbeispielen, einmal im psychotherapeutischen Bereich, ein weiteres Mal im sozialpädagogischen, wird der Unterschied deutlich gemacht zu kriminalpolizeilich videobasierter sicht- und-hörbarer Konfrontation mit den leidenden Opfern und den massiven Beziehungs- und Entwicklungseinschränkungen der Kinder, mit denen die sozialpädagogischen und psychotherapeutischen Fachkräfte konfrontiert werden. Im Gegensatz zur videobasierten realen Missbrauchsszene erleben sie symptomatische Störungen traumatischer Erfahrungen: sozialen Rückzug, verminderter Ausdruck positiver Emotionen, deutlich vermindertes Interesse, deutlich reduzierte Teilnahme an Aktivitäten wie Spiel oder sozialen Interaktionen. Die Fallbeispiele zeigen exemplarisch eine spezifische Abwehr sowohl auf der therapeutischen wie auf der Seite von pädagogischen Fachkräften. Die, so die Annahme dieser Arbeit, diene der Abwehr der unerträglichen Identifikation mit der Qual der Opfer. Als hilf- und aufschlussreich wird die Auseinandersetzung mit Forschungen erfahren, die die Auswirkungen frühkindlicher traumatischer Belastungen belegen und in diagnostischen Klassifikationen festgehalten haben.
Schlüsselwörter: Sexueller Kindesmissbrauch, Abwehr, Verleugnung, frühkindliches Trauma.
Angelika Staehle
Gegenwärtige Herausforderungen an die Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalyse
Was bleibt und was hat sich verändert?
Dieser Aufsatz wirft einen kurzen Blick zurück auf die Geschichte der Kinderanalyse, auf die Pionierinnen: Anna Freud und Melanie Klein, ihre Kontroversen und die weitere Entwicklung, vor allem durch Donald W. Winnicott und viele andere. Die Welt, in der unsere Kinder aufwachsen, hat sich zweifellos seit den Anfängen der Psychoanalyse radikal verändert und diese Auswirkungen zeigen sich in unseren theoretischen Konzepten und in unserer Praxis. Herausgreifen werde ich die Veränderungen, die durch die rasanten technischen Entwicklungen in den neuen Kommunikationsmedien und die wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen, die mit einer nicht-neurotischen Pathologie zu uns kommen. Bei all diesen Patienten ist zuerst die Arbeit an den basalen Voraussetzungen für das Lernen aus Erfahrung (Bion, 1990b) erforderlich, erst dann ist psychische Veränderung möglich und die Entwicklung kann weiter fortschreiten. In meinen Ausführungen zur Behandlungstechnik anhand von klinischen Beispielen möchte ich vermitteln, was in meiner psychoanalytischen Haltung und in den Behandlungskonzepten sich verändert hat und was beständig geblieben ist.
Schlüsselwörter: Container/Contained, Intersubjektivität, Mentalisierung, neue Medien, Psychotherapeutische Techniken, Symbolisierungsfähigkeit.
Simone Hees
Ungewissheit – Hoffnung: Gegenwartsmomente in der analytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie
Ungewissheit ist etwas, das sehr deutlich widerspiegelt, was viele Menschen als Folge des aktuellen Geschehens in unserer Welt wahrnehmen und empfinden. Krieg, Pandemie, Klimawandel – vieles ist ungewiss. Ungewissheit, diese auszuhalten, bildet demnach einen wesentlichen Bestandteil psychotherapeutischer Prozesse in der psychoanalytischen Behandlung. Diese Ungewissheit steht für oder beheimatet jedoch auch die Möglichkeit auf Hoffnung. »Nicht-Wissen« kann dabei zu einem wichtigen Element der professionellen Haltung des Psychotherapeuten2 werden. Anhand von exemplarischen Fallvignetten aus der analytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie wird veranschaulicht, wie innerhalb der therapeutischen Beziehung Hoffnung spürbar und Ungewissheit aushaltbar(er) werden – für Patient und Psychoanalytikerin. Der Artikel versteht sich als Anregung und Einladung im Hinblick auf eine weitere Auseinandersetzung mit den Themen Gegenwartsmomente, Ungewissheit und Hoffnung in der psychoanalytischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie.
Schlüsselwörter: Ungewissheit, Hoffnung, Gegenwartsmoment, Intersubjektivität, psychoanalytische Identität.
Matthias Sonnenburg
Auf den Schultern von Daniel N. Stern – eine Identität für die Zukunft der Psychoanalyse oder: Was bleiben will, muss sich ändern
Die Psychoanalyse hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Die Besinnung auf die Wurzeln dieser Veränderungen kann nach innen eine einigende und reorganisierende Funktion haben und damit nach außen die Grundlage dafür schaffen, dass der Psychoanalyse in dieser Zeit ihrer Marginalisierung wieder eine Erklärungskompetenz für die menschliche Seele im gesamten psychotherapeutischen Feld zuwächst. Dafür wird Daniel N. Stern als Schlüsselfigur angesehen. Seine drei Forschungsansätze werden dargestellt und ihre Ergebnisse für die Mikroanalyse der menschlichen Interaktion und die präverbale Entwicklung des Selbst. Es ergeben sich daraus zwei Paradigmen für Behandlungen und seelisches Geschehen: Intersubjektivität und implizites Wissen. Neben die explizite Agenda des Verstehens und der Deutung von Inhalten schiebt sich eine implizite Agenda, die im Gegenwartsmoment Zustände reguliert und Intersubjektivität herstellt. Seine Forschungen bestätigen in fünf Kernelementen die Grundlage psychoanalytischen Denkens und Handelns. Und sie verändern unsere Modelle und die Sicht auf die Bedeutung des prozeduralen Systems, die Emotionen und die Körperlichkeit. Daraus wird eine Veränderung psychoanalytischer Identität abgeleitet, die eine beobachtungszentrierte Wende und einen Übergang von einer gesättigten zu einer ungesättigten Identität beinhaltet. Das befähigt uns, unsere Wissenschaft vom Menschen offensiv, selbstbewusst und optimistisch zu vertreten und dabei den emanzipatorischen Gehalt der Psychoanalyse zu bewahren.
Schlüsselwörter: Säuglingsforschung, Psychoanalyse, Intersubjektivität, implizites Wissen, Identität.
Judith Noske
Augenblicke in psychotherapeutischen Prozessen mit Kindern und Jugendlichen
Versuche des Einfassens und Bedeutung-Gebens
Therapeutische Veränderungsprozesse werden nicht nur durch kontinuierliche Beziehungsarbeit, Deutungsarbeit und durch das Erarbeiten von Entwicklungsmöglichkeiten gestaltet. Oft sind es plötzlich auftretende, intensive Momente innerhalb der therapeutischen Beziehung, die gleichsam unsere Patientinnen und Patienten wie auch uns selbst nicht unberührt lassen und die den Impuls zur Veränderung geben. Der folgende Artikel hat sich aus einer klinischen Untersuchung an der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hinterbrühl in Niederösterreich entwickelt. Ziel war es, sich den im klinischen Alltag auftretenden Begegnungsmomenten praktisch, konzeptuell und wissenschaftlich über die Beziehungsachse der OPD-KJ-2 anzunähern und ihnen darüber eine sichtbare praktische Relevanz zu verleihen.
Schlüsselwörter: Stationäre Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie, Chaostheorie, intersubjektiver Raum, Beziehungsachse der OPD-KJ-2, Moments of Meeting