
Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie
Zeitschrift für Psychoanalyse und Tiefenpsychologie
Flucht und Trauma
Printausgabe – Heft 175, 48. Jg., 3/2017
Inhalt
Vorwort
Hans Keilson
Entwicklung des Traumabegriffs
Korinna Fritzemeyer
Auswirkungen unverarbeiteter Traumatisierungen im Kontext von Verfolgung und Zwangsmigration auf die frühe Mutter-Kind-Interaktion
Gabriele Teckentrup
Flucht und Trauma
Dorothee Bortel
»Wo ist der Papa?«
Tiefenpsychologisch fundierte Therapie eines zu Behandlungsbeginn 2;9 Jahre alten afrikanischen Jungen nach Vaterverlust
Claudia Burkhardt-Mußmann
Ankommende und Aufnehmende: Begegnungen mit Müttern ohne adoleszente Loslösung
Agathe Israel
Wie erlebt und gebraucht das Baby seine BeobachterIn im Laufe der Säuglingsbeobachtung nach der Methode von Esther Bick?
Überlegungen zu intersubjektiven Prozessen
Sabine Vogel
Erschütterung der Menschen – Erschütterung des Settings?
Konferenz über die psychoanalytische Arbeit mit Flüchtlingen und Flüchtlingsfamilien am Anna-Freud-Institut, Frankfurt a. M.
Kurzbericht
Buchbesprechungen
Die Autorinnen und Autoren des Heftes
Ankündigungen
Auswirkungen unverarbeiteter Traumatisierungen im Kontext von Verfolgung und Zwangsmigration auf die frühe Mutter-Kind-Interaktion
Im Kontext der aktuellen sogenannten Flüchtlingskrise kommen viele Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland. Es ist davon auszugehen, dass viele aus lebensbedrohlichen Situationen geflohen sind und dass sich ihre unverarbeiteten traumatischen Erfahrungen auf ihre Kinder auswirken bzw. dass diese selbst Traumatisierungen ausgesetzt waren. Im Rahmen der vom Sigmund-Freud-Institut in enger Kooperation mit dem Anna-Freud-Institut in Frankfurt
a. M. konzipierten und implementierten psychoanalytischen Frühpräventions- und Integrationsprojekte nehmen Mütter und ihre Kleinkinder (null bis drei Jahre) in Frankfurt a. M. und Berlin an psychoanalytisch moderierten Mutter-Kind-Gruppen teil. Ziel dieser ERSTE SCHRITTE-Gruppen ist es, die Weitergabe unverarbeiteter Traumatisierungen und negativer Erfahrungen zu verhindern bzw. ihre Auswirkungen auf die Kinder abzumildern sowie die psychosoziale Integration der Familien zu unterstützen. Anhand eines ausführlichen Fallbeispiels einer Mutter, die im Kontext von religiöser Verfolgung ihre Eltern verloren hat und daraufhin zwangsmigriert ist, wird eine frühe Mutter-Kind-Interaktion – u. a. mithilfe der Emotional Availability Scales (EAS; Biringen, 2008) – beschrieben und diskutiert.
Schlüsselwörter: Trauma, transgenerationelle Weitergabe, Migration, Mutter-Kind-Interaktion, Frühprävention und -integration.
Gabriele Teckentrup
Flucht und Trauma
In meinem Artikel werde ich aus der psychotherapeutischen Behandlung eines jugendlichen Kriegsflüchtlings berichten, der wegen somatischer Beschwerden zu mir in die Behandlung gekommen ist. Am Beispiel dieser Behandlung, die, obwohl sie inzwischen einige Zeit zurückliegt, nichts von ihrer Aktualität verloren hat, möchte ich aufzeigen, dass die Symptome des Patienten Ausdruck seiner psychischen Extremtraumatisierung sind, und ich werde der Frage nachgehen, inwieweit die körperlichen Symptome auch Ausdruck sind für unbewusste Konflikte, die aus den Primärbeziehungen des Patienten rühren und die durch die traumatisierenden Erfahrungen in der Pubertät revitalisiert und verschärft worden sind.
Schlüsselwörter: Trauma, Flucht, Flüchtling, Pubertät, Konversion.
Dorothee Bortel
»Wo ist der Papa?«
Tiefenpsychologisch fundierte Therapie eines zu Behandlungsbeginn 2;9 Jahre alten afrikanischen Jungen nach Vaterverlust
Im vorliegenden Fall geht es um die tiefenpsychologisch fundierte Arbeit mit einem 2;9-jährigen afrikanischen Jungen, Louis und seiner Mutter, Madame Q. Die Behandlung erfolgte zunächst in französischer Sprache. Mit Louis konnte nach einem halben Jahr auf Deutsch weitergearbeitet werden. In der Therapie wird deutlich, wie eng der Junge anfangs noch mit der »unverdauten« Trauer der Mutter verbunden ist und wie sich beide allmählich aus der phantasmatischen Verwicklung lösen und entwickeln können. Louis gelingt es auf seine Art und Weise, sich mit der Frage der Loslösung von der Mutter und der Suche nach seinem Platz als Subjekt in der Familie, seiner interkulturellen Lebenswelt auseinanderzusetzen. Es werden in dieser Fallgeschichte hauptsächlich er und seine Mutter zu Wort kommen, um den Leser an den Veränderungsprozessen teilnehmen zu lassen.
Schlüsselwörter: Migration, tiefenpsychologische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie, Psychotherapie in der Muttersprache, Vaterfunktion.
Claudia Burkhardt-Mußmann
Ankommende und Aufnehmende:
Begegnungen mit Müttern ohne adoleszente Loslösung
Das Frühpräventionsprojekt ERSTE SCHRITTE und das Nachfolgeprojekt »Jasmin – zwischen Traum und Trauma«, zwei Gruppenangebote der psychoanalytischen Institute Sigmund- und Anna-Freud in Frankfurt a. M., verstehen sich als aufnehmende Einrichtungen, die neu in Deutschland ankommenden Migrantenmüttern und Flüchtlingsfrauen und ihren Kleinkindern einen Übergangsraum anbieten. Das zugrunde liegende psychoanalytisch fundierte Konzept stellt für die Begegnungen zwischen Ankommenden und Aufnehmenden einen Rahmen zur Verfügung, der einerseits die psychologischen Folgen von Migration, bzw. Flucht und Verfolgung berücksichtigt – u. a. durch Langfristigkeit und Kontinuität der Angebote, und andererseits die soziokulturellen Erfahrungen der Mütter. Diese sind geprägt durch Aufwachsen in traditionalen Strukturen mit familialen Abhängigkeiten, in denen für Frauen keine adoleszente Entwicklung vorgesehen ist. Die Begegnungen in den Gruppenangeboten legen die Vermutung nahe, dass der fehlende Loslösungsprozess der Mütter die frühen Beziehungsstrukturen zu den Kindern in spezifischer Weise determiniert und ihre eigene verbundenheitsorientierte Erfahrung fortsetzt.
Schlüsselwörter: Eltern-Kind-Kommunikation, Intersubjektivität, interkulturelle Behandlungssituation, frühkindliche Erfahrungen.
Agathe Israel
Wie erlebt und gebraucht das Baby seine BeobachterIn im Laufe der Säuglingsbeobachtung nach der Methode von Esther Bick?
Überlegungen zu intersubjektiven Prozessen
In dieser Arbeit wird versucht, die Beziehung zwischen Baby und BeobachterIn, die sich während einer teilnehmenden Säuglingsbeobachtung nach der Methode Esther Bick entwickelt, aus der Perspektive des Babys zu beschreiben. Die Grenzen dieses Vorhabens werden diskutiert. Ausgehend von beobachtbaren Phänomenen wird untersucht, wie das Baby mit der BeobachterIn präverbal kommuniziert und wie es ihr wohlwollendes Interesse und zuverlässiges Containment, verbunden mit ihrer Handlungspassivität (Zurückhaltung) nutzt, zu lernen, psychische Funktionen selbst auszuüben, um ein eigenständiges Wesen zu werden. Es wird beschrieben, wie das Kind sie in emotionalen Notlagen nutzen kann oder um Erfahrungen zu verdauen oder um sein Nachträglich-Sein zu unterstützen oder um den dritten Anderen zu erkennen. Danach wird darauf eingegangen, wie die fortschreitende Entwicklung des Kindes seine Beziehung zur Beobachterin wandelt. Abschließend wird reflektiert, wie alle Beteiligten die Leidenschaft zusammenführt, emotional lernen zu müssen und zu wollen.
Schlüsselwörter: Säuglingsbeobachtung nach der Methode von Esther Bick, präverbale Kommunikation, intersubjektive Prozesse, emotionales Lernen aus Erfahrung.