Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie
Fachzeitschrift für Psychoanalyse und Tiefenpsychologie
Transgender II
Printausgabe – Heft 203, 55. Jg., 3/2024
Inhalt
Vorwort
Beitrag 1
Grundlagentext
Kai Rugenstein
Woher kommt das Sexuelle?
Beitrag 2
Alexander Korte & Gisela Gille
Wahlverwandtschaften? Trans-Identifizierung und Anorexia nervosa als maladaptive Lösungsversuche für Entwicklungskonflikte in der weiblichen Adoleszenz
Beitrag 3
Jörn Grebe
Paradoxale (In)Stabilität in der frühen Adoleszenz: Gedanken zur Transidentität
Beitrag 4
Adelheid Staufenberg
Orientierungsversuche in der Transgender-Debatte
Beitrag 5
Psychoanalytische Leitlinie der VAKJP
Thomas F. Lehmann / Andrea Maas-Tannchen / Gudrun Kallenbach unter Beteiligung von Alice Graneist
Geschlechtsinkongruenz
Beitrag 6
Forum
Volker Tschuschke
Jugendliche Identitätsverwirrung – eine Philippika wider den Zeitgeist
Buchbesprechungen
Die Autorinnen und Autoren des Heftes
Ankündigungen
Woher kommt das Sexuelle?
Freuds Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Sexuellen – »Anlehnung« – führt in eine Sackgasse. Der Beitrag erkundet diese Sackgasse und stellt anknüpfend daran eine alternative Antwortoption vor, die sich in der von Jean Laplanche formulierten »Allgemeinen Verführungstheorie« findet. Diese verortet den Ursprung des Sexuellen nicht in endogen biologischen Prozessen, sondern findet ihn im Austausch des Subjekts mit dem Anderen. Damit weist sie psychoanalytischem Theoretisieren einen Weg hin zu einem zeitgemäßen Nachdenken über Trieb, Sexualität, Geschlecht und Gender.
Schlüsselwörter: Sexualität, Trieb, Intersubjektivität, rätselhafte Botschaften.
Alexander Korte & Gisela Gille
Wahlverwandtschaften?
Trans-Identifizierung und Anorexia nervosa als maladaptive Lösungsversuche für Entwicklungskonflikte in der weiblichen Adoleszenz
»Die Anzahl von Minderjährigen, die sich »im falschen Geschlecht« wähnen und eine »Geschlechtsänderung« anstreben, ist in den letzten Jahren exponentiell gestiegen. Dabei sticht ins Auge, dass mittlerweile über 80 Prozent der betroffenen genderdysphorischen Jugendlichen mit Wunsch nach körpermodifizierenden und juristischen Maßnahmen Mädchen sind. Das aktuell vom Bundestag beschlossene Selbstbestimmungsgesetz sieht vor, dass auch Minderjährige mit Vollendung des 14. Lebensjahres voraussetzungslos einen Antrag auf Personenstandsänderung beim zuständigen Standesamt abgeben können sollen. In Anbetracht dessen gilt es umso mehr, die Ursachen für die beobachteten epidemiologischen Verschiebungen zu analysieren. Kritisch reflektiert werden muss vor allem, ob die transgeschlechtliche Identifizierung für nicht wenige jugendliche Mädchen eine maladaptive Lösungsstrategie sein könnte, dem Druck durch die immensen Entwicklungsaufgaben und Anpassungserfordernisse der weiblichen Pubertät auszuweichen. Um in diesem Punkt zu einem tieferen Verständnis vorzudringen, ist es hilfreich, die Analogien einer sich in der Adoleszenz erstmanifestierenden Genderinkongruenz und der Pubertätsmagersucht in den Blick zu nehmen und die dem zugrunde liegenden entwicklungspsychologischen Ursachen speziell der weiblichen Pubertät und Adoleszenz herauszuarbeiten. Ausgehend davon werden, nach vorangestellter Diskussion unterschiedliche Ansätze in der Behandlung von geschlechtsdysphorischen Kindern und Jugendlichen, Möglichkeiten ärztlicher Prävention aufgezeigt.
Schlüsselwörter: weibliche Pubertät, Anorexie, Körperdysphorie, Geschlechtsinkongruenz, Transsexualität, Selbstbestimmungsgesetz.
Jörn Grebe
Paradoxale (In-)Stabilität in der frühen Adoleszenz: Gedanken zur Transidentität
Im Zusammenhang mit der vielfach und kontrovers diskutierten Transidentität in der frühen Adoleszenz samt des Anliegens nach körpermedizinischen Modifikationen wirbt der Autor für eine Perspektive und Haltung, die den Veränderungen der Psychosexualität und ihren Übersetzungs- und Bindungsprozessen mit einem zeitgemäßen Verständnis der Verkörperung der jeweiligen sexuellen Identitätsentwicklung Rechnung tragen möchte; ohne dabei medizinische Risiken zu bagatellisieren. Anliegen der vorliegenden Arbeit ist dabei wesentlich einen kulturtheoretisch-psychodynamischen Beitrag zu einem komplexeren und abwägenden Verständnis der Transidentität in der frühen Adoleszenz zu leisten.
Schlüsselwörter: Transidentität, Psychosexualität, frühe Adoleszenz, Identität.
Adelheid M. Staufenberg
Orientierungsversuche in der Transgender-Debatte
Ich stelle einige meiner Überlegungen vor, die beschreiben, wie ich mich in der hoch komplexen Diskussion um Transgender, Transidentität, Transsexualität und »Queerness« orientiere und zentrale Begriffe verstehe und wie ich sie zu differenzieren versuche. In der Einführung beschäftige ich mich mit Problemen der kontroversen Diskussion und werfe für diesen Zusammenhang einen Blick auf die Bedeutung der Sprache und ihrer performativen Funktion. Anschließend stelle ich einige Überlegungen zu möglichen Bedeutungen und Funktionen von Transidentität bei Jugendlichen im Prozess ihrer adoleszenten Entwicklungsaufgaben an. Schließlich werfe ich einen Blick auf die rechtliche Situation und Probleme der Diagnose.
Schlüsselwörter: adoleszente Entwicklungsaufgaben – trans – Dekonstruktion/Konstruktion – Geschlechtsinkongruenz – Geschlechtsdysphorie.
Psychoanalytische Leitlinie der VAKJP
Thomas F. Lehmann / Andrea Maas-Tannchen / Gudrun Kallenbach unter Beteiligung von Alice Graneist
Geschlechtsinkongruenz
Geschlechtsinkongruenz/Geschlechtsdysphorie bezeichnet das inkongruente Verhältnis eines Individuums zu seinem geburtlich zugewiesenen Geschlecht. Das betrifft zunächst die psychologische sowie die soziale Dimension von Geschlechtlichkeit, in Teilen auch den biologischen Körper, und ist zunächst unabhängig vom Lebensalter und dem Zeitpunkt des Auftretens. Geschlechtsdysphorie ist der verbliebene krankheitsbezogene Anteil im Zuge der Entpathologisierung von Transsexualität bzw. neu begrifflich Transidentität und der Neudefinition in den Klassifikations- und Diagnosesystemen (ICD-11 und DSM-5). Transidentität ist keine Krankheit. Sie ist Teil der geschlechtlichen Vielfalt der Gesellschaft. Geschlechtlichkeit und geschlechtsvariantes Leben und Erleben sind abhängig vom gesellschaftlichen Verständnis und deren geführter Kontroverse. Transgeschlechtlichkeit in seinen jeweiligen Ausprägungen bestimmt und ist Grundlage für die Begriffsbildung, den Umgang in den unterschiedlichen Bereichen sozialer Beziehungen (wie Familie und Gruppen), der Rechtsprechung (Transsexuellengesetz, Selbstbestimmungsrecht) und letztlich den medizinischen, wissenschaftlichen und psychotherapeutischen Umgang mit dem individuellen Leid eines Menschen »im falschen Körper zu leben«. Es ist davon auszugehen, dass geschlechtliche Inkongruenz und Dysphorie keine Modeerscheinung ist, sondern zeitgeschichtlich lange beobachtbar und wie jede andere Form von seelischen Konflikten ernst zu nehmen und in einen gewählten therapeutischen Kontext zu bringen ist. Die vorliegende Leitlinie der Vereinigung für analytische und tiefenpsychologisch fundierte Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie in Deutschland e. V. (VAKJP) dient der Orientierung in der Arbeit Analytischer Kinder- und Jugendlichen- Psychotherapeut:innen und psychodynamisch orientierte Fachkräfte mit Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und ihren Familien, wenn »Trans«-Sein und geschlechtliche Inkongruenz ein Thema wird. Sie ist Vorlage für den fachlichen Diskurs und ist in Respekt zum aktuellen Diskurs der geschlechtlichen Identitätsbildung veränderbar.
Forum
Volker Tschuschke
Jugendliche Identitätsverwirrung – eine Philippika wider den Zeitgeist
Die Verwirrung junger Menschen war zu keiner Zeit so groß wie dies derzeit insbesondere in den westlichen Gesellschaften der Fall ist. Es dürfte kein Zweifel darüber bestehen, dass im Wesentlichen das Internet und die modernen Medien und die durch sie verursachte tsunamiartige Informationsflut dafür verantwortlich sind. Über vermeintlich als korrekt und woke propagierte Theorien und Meinungen werden die Gesellschaft und eine für Orientierung und Identifizierung vulnerable junge Generation manipuliert und mit einem verwirrenden, undifferenzierten und falschen Weltbild verführt. Ein eklatantes Beispiel dafür gibt der in jüngster Zeit in exponentiellem Ausmaß auftretende Wunsch nach Geschlechtstransition ab, in dem sich eine tiefgreifende Identitätsverwirrung spiegelt.
Schlüsselwörter: Transsexualität, Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie, Geschlechtsidentität, Geschlechtsangleichung, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie.