Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie
Fachzeitschrift für Psychoanalyse und Tiefenpsychologie
Vielfalt in der Psychoanalyse
Printausgabe – Heft 204, 55. Jg., 4/2024
Inhalt
Vorwort
Egon Garstick
Gesellschafts- und kulturkritische Psychoanalyse in Hans Hopfs Werk
Hans Hopf
Von der Zerstörung des weiblichen Körpers – Das destruktive Über-Ich von Mädchen und die Folgen für den Körper
Josef Christian Aigner
Warum Jungen Unterstützung und gute Väter brauchen
Hans Hopfs Beitrag zu Männlichkeit in der Psychoanalyse
Jürgen Grieser
Die Enträtselung von Winnicotts »Piggle«
Einblicke in Winnicotts Elternarbeit und andere Erkenntnisse mit dem Buch Finding the Piggle
Frank Dammasch
Jugendliche in der Moderne zwischen Perfektionsdruck und Verlorenheitsgefühl«
Hans-Geert Metzger
Konflikte zwischen den Generationen um Selbstverwirklichung und Abhängigkeit – am Beispiel von Klimakrise und Pandemie
Forum
Thomas Hüller
Sorgen eines Gutachters
Forum
Evelyn Heinemann
Universalität des Inzesttabus – Ethnopsychoanalytische Reflexionen zur lebenslangen Entwicklung der Geschlechter
Buchbesprechungen
Die Autorinnen und Autoren des Heftes
Ankündigungen
Gesellschafts- und kulturkritische Psychoanalyse in Hans Hopfs Werk
Hans Hopfs Arbeiten über die spezifischen Entwicklungsbedürfnisse von Buben, männlichen Jugendlichen und jungen Männern wurde von ideologisch verblendeten Seiten krtisiert: Sie seien überholt und würden einem patriarchalen Gesellschaftsbild entstammen. Der Autor zeigt auf, wie sehr wohl in Hopfs Arbeiten bio-psycho-soziale Sozialisationsbedingungen mit der kulturkritischen Brille reflektiert werden. Für die Frage, ob der Mensch in seiner frühen Kindheit ausreichend genug ausgestattet wird mit Urvertrauen, Frustrationstoleranz, Mentalisierungskompetenz und gesundem Selbstvertrauen, werden neuere Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Eltern-Baby-Therapie vorgestellt. Zusätzlich wird Hopfs Auseinandersetzung mit der männlichen narzisstischen Kränkbarkeit in Beziehung gesetzt und verglichen mit Franco Berardis soziopsychoanalytisch anmutender Analyse der scheinbar ideologisch oder religiös motivierten Massenmorde, wie die von Anders Breivik oder der Amokläufer in Schulen.
Schlüsselwörter: Entwicklung, Jungen, Männer, Selbstvertrauen, Mentalisierung, Eltern-Kleinkind-Therapie.
Hans Hopf
Von der Zerstörung des weiblichen Körpers – Das destruktive Über-Ich von Mädchen und die Folgen für den Körper
Mädchen und Jungen verarbeiten Konflikte unterschiedlich. Häufiger als Jungen leiden Mädchen unter psychosomatischen Störungen und einer Neigung zu vermehrter Depression und Ängsten. Die Verarbeitung ihrer Konflikte ist deutlich internalisierend und autoaggressiv, Aggressionen richten sie gegen das eigene Selbst und den Körper. Jungen hingegen externalisieren, können offen aggressiv sein und stören in sozialen Bereichen. Viele Mädchen haben Probleme mit dem Selbstwert, dem Körperselbst und der Weiblichkeit. Diese Defizite ziehen wiederum Scham- und Schuldängste nach sich sowie langfristig eine Tendenz, den eigenen Körper abzulehnen, zu hassen und zu zerstören. Betrachten wir die häufigsten Störungsbilder der Mädchen, so wird deutlich, wie die Zerstörung des eigenen Körpers immer mehr fortschreitet. Meine Hypothese ist, dass bei der Entstehung dieser Störungen das strenge Über-Ich der Mädchen mit einhergehendem Selbsthass die zentrale Rolle spielt. In diesem Artikel werden die häufigsten Störungsbilder betrachtet, einige davon ausführlicher untersucht: Schuld- und Schamängste, selbstverletzendes Verhalten in unterschiedlichen Ausprägungen und auf allen Strukturebenen sowie die Essstörungen: Anorexia, Bulimie, Binge Eating, am Rande noch Borderline-Persönlichkeitsstörung, gelegentlich mit Prostitution. Wie schon erwähnt, kann das Über-Ich von Mädchen eine höchst problematische Entwicklung nehmen: Es kann auf einem langen Entwicklungs- und Erziehungsprozess sadistisch und verfolgend werden. Darum sollte bei jeder Behandlung einer Anorexie die Entstehung eines vorhandenen verfolgenden, sadistischen Über-Ichs sorgfältig analysiert werden. Vor allem sollte die grenzüberschreitende Moral der Bezugspersonen, die auf die Betroffenen von der Kindheit an traumatisierend gewirkt und das Über-Ich deformiert hat, erkannt und bewältigt werden. Am Schluss wird diskutiert, ob auch Mädchen externalisieren und in seltenen Fällen narzisstische Wut verspüren können. Das ist immer noch seltener als beim männlichen Geschlecht. Der Mord zweier Mädchen an ihrer Freundin hat jedoch in erschütternder Weise deutlich gemacht, dass es in Extremfällen durchaus möglich sein kann.
Schlüsselwörter: Mädchen, Über-Ich, selbstverletzendes Verhalten, Essstörungen.
Josef Christian Aigner
Warum Jungen Unterstützung und gute Väter brauchen
Hans Hopfs Beitrag zu Männlichkeit in der Psychoanalyse
Väterlichkeit und mit ihr auch verschiedene Formen von Autorität oder Führung sind in unseren Gesellschaften – vielleicht abgesehen von der Wirtschaftswelt – in den letzten 50 Jahren durch verschiedene gesellschaftliche Vorgänge anhaltend in Mitleidenschaft gezogen worden. Ab den 1960er-Jahren stand über längere Zeitspannen hin eine ganze Vätergeneration im Rahmen der Liberalisierungsbewegung der 1968er Zeit unter massiver Kritik. Mit Recht wurden patriarchale Autoritäten für Vieles kritisiert, weil in der Vergangenheit der Kriegs- und Nachkriegszeit Geschehenes unzulänglich bearbeitet wurde und als Unerledigtes weiterwirkte. Dazu gehörte eine ganze Generation von Vätern, die für viel Unrecht verantwortlich waren. Allerdings hat man im Nachhinein den Eindruck, dass mit diesem Prozess des »Aufräumens« jegliche Autoritäten schlechthin unter Verdacht gestellt und entwertet wurden – das berühmte Kind sozusagen mit dem Bad ausgeschüttet wurde.
Schlüsselwörter: Väterlichkeit, Männlichkeit, Psychoanalyse, Geschlechterklischees, Geschlechterdifferenz, Jungenförderung.
Jürgen Grieser
Die Enträtselung von Winnicotts »Piggle«
Einblicke in Winnicotts Elternarbeit und andere Erkenntnisse mit dem Buch Finding the Piggle
Bei Winnicotts »Piggle« handelt es sich um eine der wenigen langen Fallgeschichten der Kinderanalyse, die unterschiedliche Reaktionen hervorrief und viele Fragen offen ließ. Dank einem von Corinne Masur herausgegebenen Sammelband stehen uns nun viele neue Informationen zur Verfügung, die eine bessere Einschätzung von Winnicotts Behandlung ermöglichen. Die damalige Patientin enthüllt im Rückblick biografische Zusammenhänge, die ein neues Licht insbesondere auf Winnicotts Arbeit mit den Eltern, die »psychoanalysis partagé«, werfen. Die unterschiedlichen Zugänge der Beiträge ermöglicht eine faszinierende Erweiterung der Fallgeschichte insofern, als sich Schicht für Schicht immer neue Einblicke und Perspektiven in das Material ergeben und damit auch das Verständnis für die Symptomatik der Patientin ständig vertieft wird. So eröffnet sich durch die Dekonstruktion und Rekonstruktion von Winnicotts Fallgeschichte eine für die Gegenwart hochaktuelle, spannende und didaktisch wertvolle Möglichkeit, die Entwicklung der Kinderanalyse und der Elternarbeit anhand der unterschiedlichen Lesarten dieser einen Fallgeschichte nachzuvollziehen.
Schlüsselwörter: Winnicott, Piggle, Kinderanalyse, Elternarbeit, Geschichte der Psychoanalyse.
Frank Dammasch
Jugendliche in der Moderne zwischen Perfektionsdruck und Verlorenheitsgefühl
Nach einer kurzen historischen Skizze widmet sich der Aufsatz der sozialpsychologischen Zustandsbeschreibung der Gegenwart als einer multioptionalen Autonomie verherrlichenden Kultur. Die dadurch entstehenden subjektiven Belastungen und ihre Auswirkungen auf die Familien und auf die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen werden diskutiert. Es wird das Störungsbild der »depressiven Streberin« – wie es der Autor nennt – an einem exemplarischen Fallbeispiel dargestellt.
Schlüsselwörter: Autonomie, Kultur, Belastung, Sozialisation, Depression.
Hans-Geert Metzgerh
Konflikte zwischen den Generationen um Selbstverwirklichung und Abhängigkeit – am Beispiel von Klimakrise und Pandemie
Die schon immer vorhandene Spannung zwischen Selbstbestimmung und Bindung hat sich durch politische, kulturelle und psychische Prozesse verschärft. Mit dem Argument der Selbstbestimmung werden juristische Entscheidungen begründet wie auch Identitäten gewählt. Abhängigkeit dagegen erscheint negativ bestimmt und wäre zu vermeiden. Zur Selbstverwirklichung gehört auch der oft zu beobachtende Versuch der Elterngeneration, jung zu bleiben, an der Jugend ihrer Kinder teilzuhaben und dadurch generationale Konflikte zu vermeiden. Das hat Auswirkungen auf die Klimapolitik und hat auch den Umgang mit der Covid-19-Pandemie geprägt.
Schlüsselwörter: Generationen, Konflikt, Vermeidung, Selbstbestimmung, Abhängigkeit, Natur, Klima, Pandemie.
Forum
Evelyn Heinemann
Universalität des Inzesttabus – Ethnopsychoanalytische Reflexionen zur lebenslangen Entwicklung der Geschlechter
Wir leben in einer Zeit, in der Menschen immer älter werden und aufgrund des medizinischen Fortschritts oft mit schweren Erkrankungen lange Zeit alt, krank und pflegebedürftig bleiben. Gleichzeitig besteht, gerade auch in der Psychoanalyse, ein heftiger Widerstand, sich mit dem Thema Alter, Sterben und Tod auseinanderzusetzen. Anhand zahlreicher Vignetten aus einem Pflegeheim zeigt die Autorin, wie Menschen mit Demenz analytisch verstanden werden können, da – so die These – ihr Unbewusstes bis zum Tod intakt bleibt. Die körperliche Pflege birgt ein hohes inzestuös geprägtes Übertragungs- und Gegenübertragungspotenzial, das dringend analytisch reflektiert werden müsste. Derzeit agieren Pflegerinnen und Pfleger, indem sie Bindungen abbrechen und die Arbeitsstellen wechseln, als Psychohygiene des Pflegepersonals, so die Rationalisierung. Die Autorin sieht es als Aufgabe der Psychoanalyse, neben den Schwerpunkten Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene den Schwerpunkt Alter in den psychoanalytischen Instituten anzubieten.
Schlüsselwörter: Alter, Altenpflege, Demenz, Inzest, Ethnologie, Transgenerationalität, Unbewusstes.