Luzifer-Amor
Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse
Freud-Patienten II – Aus den Eissler-Interviews in der Library of Congress
Printausgabe – Heft 69, 35. Jg., 1/2022
Inhalt
Editorial
Schwerpunkt :
Freud-Patienten II – Aus den Eissler-Interviews in der Library of Congress
Georg Augusta
Olga Hönig und Helene Stiasny: Zwei Patientinnen Sigmund Freuds aus den 1890er Jahren
Thomas Aichhorn
Alfred Robitsek (27.6.1871–1937)
Anna Bentinck van Schoonheten
Ans van Mastrigt: Kind im Hause Freud
Albrecht Hirschmüller
Vom Nutzen und Nachteil der Archive für die Geschichte der Psychoanalyse
Aus der Forschung
Jean-Daniel Sauvant
»Vive la liberté!!, comme on dit chez nous.« Freud übersetzt Charcot
Michael Schröter
Ein Münchener Nervenarzt als Protagonist der Freud-Rezeption
Herman Westerink
Der Mann Moses – Erstfassung (1934) und Endfassung (1938): Von einer Charakter- zu einer Fallstudie
Sabina Meier Zur
Psychoanalyse und russischer Symbolismus in Wechselwirkung.
Tatjana Rosenthals Gedichte und Dostojewski-Aufsatz
Claudia Frank
»counter-transference − one of the important factors in curing our patients«.
Zu Melanie Kleins unveröffentlichtem »Statement on Training« (1944)
Michael Molnar
Ihr kritisches Auge
Kleine Mitteilung
Hans-Joachim Rothe
Bericht über die 6. Wissenschaftliche Konferenz des »Archivs zur Geschichte der Psychoanalyse e. V.« am 11.11.2021 im Osthafenforum in Frankfurt am Main202
Rezensionen und Anzeigen
Hermanns (Hg.): Psychoanalyse in Selbstdarstellungen, Band XIII (Danckwardt)
Stern: Früher mal ein deutsches Kind (Rothe)
Mazin: »Die Akte Tiflis« (Rath)
Fischer-Homberger: Pierre Janet und die Psychotherapie an der Schwelle zur Moderne (Huppke)
Magnus Hirschfelds Exil-Gästebuch (Hermanns)
Weitere Neuerscheinungen und Neuauflagen
Olga Hönig und Helene Stiasny:
Zwei Patientinnen Sigmund Freuds aus den 1890er Jahren
Den von Kurt R. Eissler in den 1950er Jahren durchgeführten Interviews mit Herbert Graf (»kleiner Hans«), dessen Vater Max Graf und dem Schriftsteller Robert Scheu können wichtige Informationen zu zwei Patientinnen Freuds aus der Zeit vor 1900 entnommen werden. Die bislang unbekannte der beiden, Helene Stiasny, war etwa 1894 bei Freud in Behandlung, ihre Freundin Olga Hönig, die Mutter des »kleinen Hans«, ab 1897. Die jungen Frauen hatten ihren jeweiligen Jugendlieben, Max Graf und Robert Scheu, von Freud erzählt, wodurch die Männer Interesse für die Psychoanalyse entwickelten. In beiden Behandlungen erteilte Freud Ratschläge, ob seine Patientinnen angesichts ihrer psychischen Erkrankung eine Ehe eingehen sollten. Während Olga Hönig Max Graf heiratete und eine Familie gründete, blieb Helen Stiasny unverheiratet. Im Erwachsenenalter entwickelte sich bei ihr eine schizophrene Erkrankung, und sie verbrachte das letzte Jahrzehnt ihres Lebens in einer psychiatrischen Klinik.
Thomas Aichhorn
Alfred Robitsek (27.6.1871–1937)
Alfred Robitsek war ein einstmals in der Psychoanalyse wohlbekannter Autor. Eine seiner Arbeiten schätzte Freud offensichtlich so sehr, dass er sie in sein Traumbuch aufnahm. Erst seitdem die von Kurt R. Eissler geführten Interviews allgemein zugänglich geworden sind, ist bekannt, dass Robitsek ein Analysand Freuds war. Da er bereits 1937 verstorben war und daher selbst nicht mehr interviewt werden konnte, wurde Eissler auf ihn durch Interviews aufmerksam gemacht, die er mit anderen geführt hatte. Nach der Besprechung von Robitseks Arbeiten und biographischen Angaben aus anderen Quellen, werden die Interviews vorgestellt, denen man Auskünfte über Robitsek entnehmen kann. Es ist spannend, Eissler dabei zu beobachten, wie er sich von Information zu Information vorwärts tastete.
Anna Bentinck van Schoonheten
Ans van Mastrigt: Kind im Hause Freud
Das Eissler-Interview mit Ans van Mastrigt (1890‒1985) ist eine große Überraschung. Sie begleitete als 20-Jährige ihre Stiefmutter, Frau Keizer, die von Herbst 1910 bis Sommer 1912 mit einer vermögenden, schwer psychotischen Patientin in Wien war, wo diese von Freud behandelt wurde. Ans van Mastrigt wurde in die Familie Freud aufgenommen. Ihr Interview enthält scharfe Beobachtungen über das tägliche Leben im Hause Freud und über mehrere Analytiker, die sie kannte.
Albrecht Hirschmüller
Vom Nutzen und Nachteil der Archive für die Geschichte der Psychoanalyse
Es werden Probleme diskutiert, die sich bei der Nutzung von archivierten Krankenakten und von Korrespondenzen mit Therapeuten ergeben. Anhand von Beispielen aus dem Tübinger Archiv der Binswanger-Klinik in Kreuzlingen, aus dem Freud-Archiv in Washington und aus dem Archiv zur Geschichte der Psychoanalyse in Koblenz sowie anhand von Freud-Briefen, die Patientennamen enthalten, wird herausgearbeitet, welche Bestimmungen die geltenden deutschen Archivgesetze und die Benutzerordnungen der jeweiligen Archive treffen. Das Interesse des an der Geschichte der Psychoanalyse interessierten Forschers und die Rücksicht auf die berechtigten Interessen des Persönlichkeitsschutzes aller Betroffenen sind stets sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Sollte der Schutz sensibler Patientendaten nach einer gewissen Zeit enden? Absoluter Datenschutz für alle Zeit wäre nur durch Datenvernichtung zu gewährleisten.
Jean-Daniel Sauvant
»Vive la liberté!!, comme on dit chez nous.«
Freud übersetzt Charcot
Freuds Aufenthalt 1885/86 an der Klinik La Salpêtrière in Paris bei Jean-Martin Charcot gilt als Meilenstein in der Entstehung der Psychoanalyse. In Paris bat Freud auch um die Erlaubnis, ein Buch von Charcot ins Deutsche übertragen zu dürfen. Einige Jahre später folgte die Übersetzung eines zweiten Werkes von Charcot, das als Poliklinische Vorträge 1892‒1894 erschien. In dieser Übersetzung fügte Freud eine große Anzahl eigener Anmerkungen ein, die Charcots Standpunkt zum Teil unverblümt kritisieren. Freud tat dies, ohne vorher die Zustimmung Charcots einzuholen oder ihn über sein Vorgehen zu informieren. 1988 wurden erstmals die Briefe von Charcot an Freud publiziert. Darin findet man auch Charcots Reaktion auf Freuds Vorgehen, die bisher nur sehr zurückhaltend kommentiert und untersucht worden ist. Der vorliegende Beitrag versucht diese Lücke zu schließen. Er lädt auch dazu ein, den Umgang von Freud mit seinen Mentoren zu reflektieren.
Michael Schröter
Ein Münchener Nervenarzt als Protagonist der Freud-Rezeption
Der Beitrag, ein Vorabdruck aus dem Buch des Autors über die Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945, würdigt die bisher wenig beachtete Bedeutung von Leopold Löwenfeld für die Freud-Rezeption bis 1906, die sich u. a. darin äußerte, dass er Freud in seinen eigenen, vielgelesenen Büchern den Raum für Darstellungen seiner Theorie und Technik gab.
Herman Westerink
Der Mann Moses ‒ Erstfassung (1934) und Endfassung (1938): Von einer Charakter- zu einer Fallstudie
Seit der im letzten Jahr erfolgten Publikation der Erstfassung von Freuds Moses-Studie aus dem Jahr 1934 gibt es die Möglichkeit, die Entstehung des Moses-Werks bis zur Endfassung (1938) zu rekonstruieren und beide Fassungen miteinander zu vergleichen. Dieser Aufsatz möchte dazu einen Beitrag leisten. Die Rekonstruktionsarbeiten und Deutungen von Ilse Grubrich-Simitis und Michel Fagard/Thomas Gindele werden kritisch betrachtet. Danach wird die These ausgearbeitet, dass Freud von seinem ursprünglichen Vorhaben, den jüdischen Charakter als Schöpfung des großen Mannes Moses verstehen zu wollen, übergewechselt ist zu einer Untersuchung der Frage nach der Bedeutung des Mordes an Moses als traumatischem Erlebnis und nach dessen Wirkung. Was anfänglich als Charakterstudie gedacht und niedergeschrieben war, wurde letztlich eine Fallstudie, in der die Analyse des Zusammenwirkens von konstitutionellen und akzidentellen Faktoren in der Ätiologie pathologischer Bildungen im Mittelpunkt steht.
Sabina Meier Zur
Psychoanalyse und russischer Symbolismus in Wechselwirkung
Tatjana Rosenthals Gedichte und Dostojewski-Aufsatz
Tatjana Rosenthal (1884–1921) war eine russische Psychoanalytikerin und Ärztin in St. Petersburg. 2018 erschien in Russland erstmalig eine Biographie über sie; zeitgleich wurden ihre verschollen geglaubten, 1918 publizierten Gedichte unter Pseudonym wiedergefunden und neu herausgegeben. Hundert Jahre nach ihrem Tod kann nun ihr schmales Werk vor allem aufgrund der Gedichte in seinen kulturellen und historischen Kontext eingeordnet werden. Die Gedichte, in denen sich Rosenthals geistiger Horizont und ihre Gedankenwelt offenbaren, lassen Verbindungen zum russischen Symbolismus sichtbar werden. Diese Spuren finden sich auch in ihrem Hauptwerk, einer psychoanalytischen Studie über Dostojewski. In dem Aufsatz wird untersucht, welche Quellen Rosenthals Dostojewski-Aufsatz beeinflusst haben, was sie zum weiten Feld der Dostojewski-Rezeption beitrug und wie ihr Aufsatz rezipiert wurde.
Claudia Frank
»counter-transference − one of the important factors in curing our patients«
Zu Melanie Kleins unveröffentlichtem »Statement on Training« (1944)
Der Beitrag erörtert wesentliche Punkte aus einem fünfseitigen »Statement on Training« von M. Klein, das als bisher einziges Zeugnis für ihre einschlägigen Überlegungen gelten kann. Klein führt darin aus, was es für die Lehranalyse an Herausforderungen bedeutet, wenn weitere Elemente der Ausbildung (Seminare, eigene Behandlungen) hinzukommen. Sie skizziert, was in einer Lehranalyse erarbeitet werden muss, soll sie als solide Grundlage für die spätere Berufstätigkeit dienen. Diese Stellungnahme, zwei Monate nach dem offiziellen Ende der Freud/Klein-Kontroversen in London verfasst, wird einerseits in der Geschichte der analytischen Ausbildung verortet, andererseits als Dokument zur Geschichte der analytischen Technik gewürdigt. Während gemeinhin das Nutzen der Gegenübertragung erst ab Heimanns (und Rackers) Arbeiten Ende der 1940er Jahre angesetzt wird, zeigt die Stellungnahme ‒ zusammen mit Kleins Vorlesungen von 1936 ‒, dass dies zu korrigieren ist. ‒ Als Anhang wird eine deutsche Fassung des »Statement« abgedruckt.
Michael Molnar
Ihr kritisches Auge
Ein Foto von Freuds Enkelin Eva als Kind, das ihrer Mutter und Großmutter den Rücken zuwendet und in die Kamera blickt, steht im Mittelpunkt dieses Essays über das Leben des Mädchens. Ihre Situation und die Umstände, die zu ihrem tragischen Tod führten, werden anhand eines Bildes untersucht, das das Mädchen als ein frühreif-weises, seine eigene Zukunft befragendes Kind zeigt. ‒ In den 1990er Jahren warfen die Forschungen von Pierre Segond ein neues Licht auf die bis dahin dunkle Geschichte Evas. Seitdem hat ihr dramatisches Schicksal immer mehr Aufmerksamkeit erregt. Während es dem Rest der erweiterten Familie Freud gelang, aus dem von den Nazis besetzten Europa zu fliehen, blieb sie allein, obwohl noch ein Teenager, im Feindesland zurück und starb mit 20 Jahren noch vor Kriegsende. War es, weil sie von ihrer Familie zurückgelassen wurde? oder weil sie sich von der Familie abwandte? Ihre Mutter und Großmutter diskutierten noch lange nach ihrem Tod über diese Fragen. ‒ Die faktischen Zeugnisse der Geschichte werden ständig der Revision unterworfen. Im Wechselspiel zwischen schriftlicher und visueller Dokumentation tritt Evas eigenes Bewusstsein von ihrer Situation als fragender Blick auf den Historiker in die Geschichtsschreibung ein.