Luzifer-Amor
Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse
Briefwechsel Sigmund Freud – Ernst Simmel 1918–1939
Printausgabe – Heft 71, 36. Jg., 1/2023
Inhalt
Editorial
Schwerpunkt :
Briefwechsel Sigmund Freud – Ernst Simmel 1918–1939
Sigmund Freud und Ernst Simmel
Briefwechsel samt Anhang
Hg. von Ludger M. Hermanns
Ludger M. Hermanns
Ernst Simmel und sein Briefwechsel mit Freud
Aus der Forschung
Richard Skues
Sigmund Freud, Fanny Bardas und der verschwindende Traum
Andreas Seeck
Sigmund Freuds stenografische Notizen
Erwin Kaiser
Der Einfluss von Franz von Brentano auf Freuds Denken – eine überschätzte Beziehung
Jon Kahn und Hans-Joachim Rothe
Karl Landauers Flucht nach Stockholm
Michael Rohrwasser
Die Begegnung zwischen Rachel Berdach und Sigmund Freud
Claudia Frank
»Disingenuous smooth-tongued opportunist«; »Influence on others: BAD«; »clear thinker and humane«
Zu Roger Money-Kyrles Mitarbeit beim G.P.R.B. in Deutschland 1946
Kleine Mitteilungen
Christfried Tögel
Das Kassa-Protokoll – ein fälschlicherweise Freud zugeschriebenes Dokument
Anne-Eva Brauneck: Eine Analysandin am »Göring-Institut«
Mitgeteilt von Michael Schröter
Caroline Neubaur
365 x Freud (Buch-Essay)
Werner Bohleber
Der politische Freudianismus. Die Psychoanalyse im 20. Jahrhundert.
Ein Buch-Essay
Rezensionen und Anzeigen
Borch-Jacobsen: Freud’s patients (Schröter)
Kahr: Freud’s pandemics (Conci)
Hermanns/Schneider-Flagmeyer (Hg.): Das Tagebuch von Sophie Halberstadt-Freud (Zeitzschel)
Ludwig-Körner: Und sie fanden eine Heimat (Schröter)
Bakman: Fünf Psychoanalytikerinnen (Hoffmann)
Heuss (Hg.): Mit dem Kinderheim auf der Flucht (Ertle)
Parin: Brennende Zeitprobleme (Hoffmann)
Weitere Neuerscheinungen und Neuauflagen
Ernst Simmel und sein Briefwechsel mit Freud
Im Nachwort wird Ernst Simmels Beziehung zu Freud nachgezeichnet, wie sie sich im Briefwechsel darstellt. Simmel bleibt durchweg der abhängige Schüler, dem Freud dessen psychotherapeutischem Engagement und psychosomatischen Spekulationen gegenüber reserviert bleibt. Er rückt aber nach seiner mehrfachen Gastgeberrolle im Tegeler Sanatorium viel näher an Freud heran und bleibt bis zu seinem Tod mit der Familie Freud in herzlichem Kontakt. Auf Simmels parallelen Briefwechsel mit Anna Freud wird hingewiesen.
Richard Skues
Sigmund Freud, Fanny Bardas und der verschwindende Traum
Durch die Verknüpfung verschiedener editorischer Anmerkungen zu publizierten Freud-Briefen wird zunächst klargestellt, dass sich einige Hinweise Freuds auf eine Freundin und Patientin von ihm auf Fanny Bardas beziehen, die er ab 1899 behandelte. Daraus erwächst eine Untersuchung von Fannys frühem Leben, einschließlich der Geschäfte ihres ersten Manns und ihrer Ehe mit Moritz Bardas. Dank dieser Befunde lassen sich weitere Rückschlüsse über die Träumerin in Freuds posthum veröffentlichtem Manuskript »Eine erfüllte Traumahnung« von 1899 ziehen und so die Details des von Freud beschriebenen Falls weiter ausarbeiten. Der zweite Teil des Aufsatzes bietet eine ausführliche theoretische Erörterung der mit Freuds Text verbundenen Schwierigkeiten und von dessen Schicksal. Es wird untersucht, inwieweit Freuds Verschiebung des Schwerpunkts seiner Überlegungen zu der Annahme, dass es sich um einen Fall von Erinnerungsstörung handelte, darauf hindeutet, das das Thema des Textes von 1899 gar nicht war, was es zunächst zu sein schien: Der Traum verschwindet.
Andreas Seeck
Sigmund Freuds stenografische Notizen
Dass Sigmund Freud über Jahrzehnte hinweg gelegentlich Stenografie verwendete, ist bisher wenig bekannt. Der Autor gibt einen Überblick zu dem Material (s. https://c.gmx.net/@329537515142775719/W-0UtsQNT2qoYrTGOKAgpQ), liefert Transkriptionen und diskutiert anhand von Indizien, welche stenografische Stellen von Freuds Hand stammen und welche nicht. – Welche Funktion und Bedeutung hatte die Stenografie für Freud? Welche Relevanz haben die stenografischen Notizen für die Freud-Forschung?
Erwin Kaiser
Der Einfluss von Franz von Brentano auf Freuds Denken ‒ eine überschätzte Beziehung
Es wird die Literatur zur Beziehung zwischen Freud und dem Philosophen Franz von Brentano dargestellt, in der aus einem kurzen Kontakt zwischen beiden teilweise weitreichende Schlüsse gezogen werden. Einige Autoren behaupten, dass diese Begegnung Folgen für Freuds Einstellung zur Philosophie und für einzelne theoretische Auffassungen gehabt habe, etwa für seine Triebtheorie, für das Konzept des Realitätsprinzips, für sein Konzept von »Introspektion«, bis hin zu der These, dass Freuds Theorie in Gänze auf Brentanos Psychologie aufbaue. Eine genaue Betrachtung der konkreten Begegnung der beiden zeigt jedoch, dass es nur einen sehr engen Bezug gab: die Frage von Theismus vs. Atheismus. Generell kann Brentanos Psychologie nur in eine allerallgemeinste Beziehung zu Freuds Psychologie gebracht werden, und ihre Grundlagen sind so verschieden von Freuds Auffassungen, dass dieselben Worte eine völlig andere Bedeutung bekommen. Die Betrachtung der Entwicklung von Freuds Denken zeigt darüber hinaus, dass er einen empirischen Weg zu seinen Auffassungen geht, während Brentano rein begrifflich arbeitet.
Jon Kahn und Hans-Joachim Rothe
Karl Landauers Flucht nach Stockholm
Karl Landauer (1887–1945) hatte gemeinsam mit Heinrich Meng, Frieda Fromm-Reichmann, Erich Fromm und S. H. Foulkes versucht, die Psychoanalyse in Südwestdeutschland zu verankern, insbesondere durch die Gründung des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts im Jahre 1929. Nach dem Boykott jüdischer Arzt- und Anwaltspraxen am 1. April 1933 floh er zu Verwandten nach Schweden. Diese kurze Episode blieb im Gedächtnis der Familie erhalten. Ihr wurde sonst wenig Beachtung geschenkt.
Durch Dokumente, wie Briefe Landauers an Max Eitingon, Unterlagen aus dem Schwedischen Reichsarchiv, einem Interview Kurt R. Eisslers mit Alfhild Tamm, der ersten schwedischen Analytikerin, wurde die Bedeutung dieser nur einige Monate dauernden Exkursion erschlossen. Tamm versuchte Karl Landauer als prominenten Lehranalytiker bei der Gründung einer schwedischen psychoanalytischen Vereinigung zu gewinnen, die ihre Mitglieder autonom ausbilden könnte. Dieses Vorhaben scheiterte am Widerstand der dortigen Ärztekammer, Karl Landauer über die Lehrbefugnis hinaus die Behandlung von Patienten zu erlauben. Es wird aber auch die ambivalente Haltung Landauers gegenüber dem Projekt deutlich, dessen Gelingen sein Leben hätte retten können.
Michael Rohrwasser
Die Begegnung zwischen Rachel Berdach und Sigmund Freud
Die 1878 in Budapest geborene jüdische Rachel Berdach trat im vergangenen Jahrhundert mit einigen ungarischen Gedichten in die Öffentlichkeit. Später ließ sie ihren Namen ändern in R. B. Bardi und begann auf Deutsch zu schreiben. In Berlin hatte sie Kontakt mit Karl Abraham und ihrem Analytiker Theodor Reik, der später von der Entstehung ihres Romans »Der Kaiser / die Weisen und der Tod« erzählt. Der Roman über Friedrich II. in Sizilien ist nicht wirklich ein historischer Roman, wie das Vigel im Titel deutlich macht. Er erscheint 1938, in den Tagen des Einmarschs der Nazis in Österreich, was sein sofortiges Verschwinden und seine Nichtrezeption erklärt. Die Autorin emigriert nach London und sendet Freud eines ihrer Exemplare. Freud zeigt sich tief beeindruckt von dem Roman und schreibt ihr einen berührenden Brief. Er lädt sie zum Besuch ein, in dessen Verlauf er ein Nachwort für die geplante englische Ausgabe entwirft. Besonders berührt ihn, dass in den Gesprächen der mittelalterlichen Weisen die Psychoanalyse lebendig scheint. Die Autorin reist weiter in die Schweiz, ihr Roman scheint vergessen, bis er im letzten Jahr im Berliner Arsenal-Verlag neu aufgelegt wurde.
Claudia Frank
»Disingenuous smooth-tongued opportunist«; »Influence on others: BAD«; »clear thinker and humane«
Zu Roger Money-Kyrles Mitarbeit beim G.P.R.B. in Deutschland 1946
Aus der Collection Money-Kyrle, R. E. (Roger Ernle), 1898–1980 wird ein erster Einblick in die umfangreichen Unterlagen gegeben, die zu den Einschätzungen der Deutschen durch die Personalforschungsabteilung der Britischen Kontrollkommission 1946 im Bad Oeynhausen vorliegen. Die Arbeitsweise des German Personnel Research Branch wird zunächst ebenso skizziert wie die Biografie Roger Money-Kyrles, dessen Denken die Bedrohung durch Hitler-Deutschland prägen und schärfen sollte. Drei Bewerber, die Roger Money-Kyrle zum sog. Psychiatrischen Interview gesehen hat, werden beispielhaft vorgestellt - sie stellen mit zahlreichen weiteren Interviews vermutlich die ersten umfangreicheren klinischen Erfahrungen dieses Philosophen dar, der sich Mitte/Ende der 1930er-Jahre auf den Weg machte, ein – später renommierter – praktizierender Analytiker zu werden.