Konstantin Rößler
Späte Bestätigung? C.G. Jungs Traumverständnis und die Forschung – eine Standortbestimmung
Zusammenfassung: »Die Traumdeutung« Sigmund Freuds aus dem Jahr 1900 markiert im öffentlichen Bewusstsein eine Geburtsstunde der Psychoanalyse. Die therapeutische Arbeit mit Träumen bildet seitdem ein zentrales Element für Praxis und Lehre aller analytisch und tiefenpsychologisch ausgerichteten Schulen. Dennoch sah sich gerade dieses Kernstück der Arbeit mit unbewussten Inhalten in den letzten Jahrzehnten massivem Widerspruch von Seiten der wissenschaftlich ausgerichteten Traumforschung ausgesetzt. Seit den 1970er-Jahren galt das von Alan Hobson begründete Paradigma vom Traum als bedeutungslosem Epiphänomen der Materie. Doch hat sich gerade in den letzten Jahren ein grundsätzlicher Wandel auch im wissenschaftlichen Mainstream vollzogen. Mit der Entdeckung des Default-Mode-Network, dem Aufkommen der Wach-Traum-Kontinuitätshypothese und einem neuen Verständnis des Phänomens Bewusstsein nähert sich die aktuelle Traumforschung Positionen an, die vor der Jahrtausendwende noch undenkbar schienen. Insbesondere C.G. Jungs Verständnis vom Traum erweist sich hier überraschend anschlussfähig. Der vorliegende Text gibt einen Überblick zur Entwicklung des Traumverständnisses und zeigt anhand der aktuellen Hypothesen der Traumforschung die Anschlussstellen zur Analytischen Psychologie auf. Diese geben Anlass, die therapeutische Arbeit mit Träumen in Lehre und Praxis wieder mit größerem Selbstbewusstsein vertreten zu können.
Schlüsselwörter: Träume; Traumforschung; Wach-Traum-Kontinuitätshypothese; Default-Mode-Network
Mark Solms
Träume und das schwierige Problem des Bewusstseins
Zusammenfassung: Träume sind sowohl subjektive Erfahrungen als auch Gehirnprozesse. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden sie hauptsächlich aus einer subjektiven Perspektive untersucht. Die auf diese Weise erzielten theoretischen Schlussfolgerungen erwiesen sich als unbeweisbar. Nach der Entwicklung physiologischer In-vivo-Techniken wurde der enge Zusammenhang zwischen Träumen und REM-Schlaf deutlich. In der Folge stellte sich jedoch heraus, dass der (mesopontine cholinerge) Generator des REM-Schlafs nicht für die Entstehung von Träumen verantwortlich ist. Der eigentliche (mesokortikale-mesolimbische dopaminerge) Generator der Träume erklärt, warum frühe psychologische Forscher davon ausgingen, dass hinter den Träumen tiefe motivierende Kräfte stehen. Träume sind durch und durch subjektive Dinge; sie können nicht allein mit physiologischen Methoden untersucht werden. Diese schwierige Tatsache bietet jedoch auch Möglichkeiten, das schwierige Problem des Bewusstseins im Allgemeinen anzugehen.
Schlüsselwörter: Traum, Gedächtnis, Schlaf, Wachsein, Halluzinationen, Bewusstsein
Sylvia Runkel
Träume und Utopien einer Behandlung
Zusammenfassung: Was ist es, was wir als Prozess einer Therapie denken – das Offensichtliche, Zu-Tage-Tretende oder das im Verborgenen sich Ereignende, welches erkennbare Entwicklung zeitigt? Der Traum ermöglicht Einblicke in das unbewusste Denken und hilft, die auf Ereignisse der Wirklichkeit konzentrierte Wahrnehmung zu weiten. Mein Beitrag ist der Versuch, dem unbewussten Prozess im Zusammenspiel mit der Wirklichkeit nachzuspüren.
Schlüsselwörter: Traum und Wirklichkeit, in der Schwebe, bewusstes und unbewusstes Denken
Jörg Metelmann
»Aktive Imagination« als soziale Innovation?
Jung, Castoriadis und die Übersetzung der Realität in Utopie (und umgekehrt)
Zusammenfassung: C. G. Jungs »transzendente Funktion« und das radikal Imaginäre des griechischen Philosophen und Psychoanalytikers Cornelius Castoriadis werden in dieser strukturellen Kulturanalyse der vorstellenden Psyche zusammengelesen im Hinblick auf die Frage, wie sich die »aktive Imagination« in ein Modell für soziale Erneuerung übersetzen lässt, das über den eng gefassten technisch-apparativen Innovationsbegriff hinausgeht (erster Teil). Es geht dabei zentral darum, eine verhärtete Wirklichkeitsbehauptung wieder fluider, die utopische Behauptung ›der‹ Realität erkennbar zu machen. Im zweiten Artikel-Teil folgt der Analyse der Utopie der Realität dann eine punktuelle Untersuchung der Realität der Utopie, indem das Profitmotiv in die Anfänge der neuzeitlichen Conquista zurückverfolgt wird.
Schlüsselwörter: Aktive Imagination, soziale Innovation, symbolische Einstellung, Utopie, Castoriadis
Henriette Heide-Jorgensen
Jungs Religionspsychologie – eine Neubetrachtung (Teil 1)
Zusammenfassung: Dieser Text befasst sich mit Jungs archetypenbasierter Religionspsychologie und dem Versuch, sie um bestimmte Aspekte zu ergänzen, die den Besonderheiten unserer Zeit besser Rechnung tragen, wie etwa dem sogenannten »Relational Turn«, also der intersubjektiven Wende im Bereich der Psychologie, und der Denkschule des postsäkularen Zeitalters in gesellschaftlicher Hinsicht. Ich plädiere in diesem Zusammenhang für die Integration der folgenden drei Gesichtspunkte: (1) die Ergänzung der Jung’schen Religionspsychologie um eine Beziehungsdimension, die sowohl numinose Symbole als auch Symbole organisierter Religion umfasst; (2) die Anerkennung der Tatsache, dass organisierte Religionen auch heute nach wie vor von Bedeutung sind, wenn auch in einer individuelleren und privateren Form als traditionell üblich war; (3) die Entwicklung eines Bewertungsinstruments für religiöse Symbole, das auf den Werten des Individuationsprozesses beruht und das erforderlich ist, weil nicht alle religiösen Symbole von gleicher Qualität sind. Der zweite Text dieser Arbeit befasst sich mit dem klinischen Fundament dieser Gesichtspunkte.
Schlüsselwörter: relationaler Ansatz, postsäkulares Zeitalter, religiöse Symbole, Individuation, Religionspsychologie.