
Analytische Psychologie
Zeitschrift für Psychotherapie und Psychoanalyse
Bedrohte Welten
World under threat
Inhalt
Jens Preil
Editorial
Jens Preil
Traurige Gedanken träumen
Social Dreaming in Buenos Aires
Karin Fleischer
Kollektives Trauma, implizites Gedächtnis und verkörperte aktive Imagination in der Jung’schen Analyse
Monica Luci
Zwangsverschleppungen und Folter heute aus Sicht der Analytischen Psychologie
Folterüberlebende und das Undenkbare: ein hyper-präsenter Körper im therapeutischen Prozess
Randi Gross Nathenson
Die innere Waffe finden: eine jungianische Perspektive auf Waffengewalt und Massenschießerei (mass shooting)
Emma Ting Wong / Steve Eliezer Zemmelman
我們是太空人嗎? Sind wir »der Weltraummann«? Dimensionen der analytischen Verbundenheit in einer bedrohten Welt
Denkbild
Roman Lesmeister
»Ritter, Tod und Teufel«?
Von der Wiederkehr des heroischen Ichs in Zeiten existenzieller Bedrängnis
Jungianische Identitäten
Elisabeth Grözinger
Arbeiten im Dialog mit C. G. Jung: kritisch, konstruktiv, kreativ
Véronique Liard
Literatur und Analytische Psychologie: Schreiben als Individuationshilfe
Friederike Hoffmann
Vom Innen und Außen der psychischen Realität
Soziologische Zeitdiagnosen und psychodynamisches Verstehen
Henriette Heide-Jorgensen
Eine Ergänzung zu Jungs Religionspsychologie und ein theoretischer Ansatz zur Rolle von Symbolen organisierter Religion in der Therapie basierend auf klinischem Material (Teil 2)
Laudatio
Claus Braun
Dr. Kurt Höhfeld zum 85. Geburtstag
Ausstellungsbesuch
Olga Slavina
»Heilende Kunst. Wege zu einem besseren Leben«
Baden-Baden, 4. Mai 2024–12. Januar 2025
Tagungsbericht
Christoph Baier, Philipp Burianek und Sophia Klopp
Kreativität in der Psychotherapie. Grundlagen und Forschungsansätze
10. Forschungstagung INFAP3 am 28. und 29. Juni 2024 im C. G. Jung-Institut Stuttgart
Tagungsbericht
Constanze Krauß
»Therapeutische Stilfragen — zur lebendigen Verbindung von ›persönlicher Gleichung‹, Beziehung und Methode«
Frühjahrstagung der DGAP vom 7. bis zum 10. März 2024 in Berlin
Buchbesprechungen
Förderpreis der Zeitschrift Analytische Psychologie
Vorschau
Richtlinien für Autorinnen und Autoren
Traurige Gedanken träumen
Social Dreaming in Buenos Aires
Zusammenfassung: Soziales Träumen ist eine Methode, mit Träumen in einem sozialen Kontext zu arbeiten. Menschen kommen zusammen und teilen ihre Träume und Traumassoziationen miteinander, um den Erzählungen über die Welt, in der sie leben, einen neuen Sinn zu geben. Die in einer Traummatrix geteilten Träume sind das kollektive Eigentum der träumenden Gemeinschaft. Der Fokus liegt auf dem Traum, nicht auf dem Träumer. Die Methode klammert die Gruppendynamik bewusst aus, weil sie davon ablenken könnte, in den Trauminhalten etwas Kollektives zu erkennen. Dagegen schließt gruppenanalytisches Arbeiten die Beschäftigung mit der Prozessdynamik einer Gruppe ein, die sich aus der bewussten und unbewussten Kommunikation ihrer Mitglieder entwickelt. Am Beispiel der auf dem XXII. IAAP-Kongress in Buenos Aires veranstalteten Traummatrix sucht dieser Beitrag beide Ansätze miteinander zu verbinden, um neue Möglichkeiten der Traumarbeit in Gruppen zu eröffnen.
Schlüsselwörter: Social Dreaming, Matrix, Group Relations, Gruppenanalyse, Paul Ricoeur
Karin Fleischer
Kollektives Trauma, implizites Gedächtnis und verkörperte aktive Imagination in der Jung’schen Analyse
Zusammenfassung: In diesem Vortrag wird versucht, das Heilungspotenzial aufzuzeigen, das der Einbeziehung des Körpers des Patienten in den analytischen Prozess zugrunde liegt, wobei das von Jung in seinem Frühwerk beschriebene Verständnis der Verbindung zwischen Psyche und Körper gewürdigt und neu beleuchtet wird. Darüber hinaus stellt die Autorin Überlegungen zu den Auswirkungen eines kollektiven Traumas an, dessen Folge unter anderem das Verschwinden von Tausenden von Menschen war, wodurch die Familiengenealogie unterbrochen wurde und Hunderte von Kindern ihrer Wurzeln und ihrer wahren Identität beraubt wurden. Unter Bezugnahme auf klinisches Material beschreibt die Autorin, wie der Übersetzungs- und Integrationsprozess vom Sensorisch-Perzeptiven zum Konzeptuell-Symbolischen aufgrund eines kollektiven Traumas in einem frühen Entwicklungsstadium gestoppt werden kann. Darüber hinaus wird gezeigt, wie das Potenzial des Archetyps oder des Bildschemas, das mit den somatisch-affektiven frühen Erfahrungen verbunden ist, die als implizite Erinnerungen kodiert sind, wiedergewonnen werden kann, wenn die verkörperte aktive Imagination in die analytische Arbeit einbezogen wird. Die körperlichen Gesten und somatischen Erfahrungen des Patienten können die Kluft zwischen dem präverbalen-impliziten Wissen und dem Auftauchen von Emotionen und Bildern überbrücken, was die Schaffung einer neuen symbolischen Erzählung ermöglicht.
Schlüsselwörter: Körpergedächtnis, Bildschema, Authentische Bewegung, Selbst, Kernselbst
Monica Luci
Zwangsverschleppungen und Folter heute aus Sicht der Analytischen Psychologie
Folterüberlebende und das Undenkbare: Ein hyper-präsenter Körper im therapeutischen Prozess
Zusammenfassung: In sehr seltenen Fällen überleben Menschen die Grausamkeiten von Entführung, Inhaftierung und Folter, die Zwangsverschleppungen begleiten. Dokumentierte Erfahrungen von Folterüberlebenden, die in einem Drittland Asyl suchen, helfen uns, zentrale Charakteristika solcher Art von Verbrechen zu verstehen. In der Psychotherapie von Folterüberlebenden können Worte in einem frühen Stadium und über lange Zeit hinweg oft nicht den Kern der Erfahrung des Patienten vermitteln. Die Überlebenden haben in der Regel gequälte Körper, in die individuelle und kollektive Gewalt, Hass, Wut, Schuld und Scham schmerzhaft eingeschrieben sind. Die körperliche Gegenübertragung wird für den Therapeuten zur einzigen Möglichkeit, durch eine Art Körper-zu-Körper-Kommunikation mit der Erfahrung des Überlebenden in Kontakt zu kommen. Die zentrale Rolle des Körpers in diesen Therapien deutet darauf hin, dass der Körper der unfreiwillige Empfänger das Behältnis von politischen Gräueltaten ist und aus diesem Grund der Ort, an dem die Möglichkeit von »Wissen« gespeichert ist und abgerufen werden kann. Wenn es also um Zwangsverschleppung geht, zeigt die Entschlossenheit der Angehörigen, durch die Entdeckung der sterblichen Überreste der Verschwundenen zur Wahrheit zu gelangen, die Bedeutung des Körpers als des letzten Zeugen des Geschehens jenseits jeder möglichen Manipulation.
Schlüsselwörter: Folter, Zwangsverschleppung, Körper, somatische Gegenübertragung, Trauma, Ich-Selbst-Achse, Wissen, Wahrheit, sterbliche Überreste
Randi Gross Nathenson
Die innere Waffe finden: eine jungianische Perspektive auf Waffengewalt und Massenschießerei (mass shooting)
Zusammenfassung: Massenschießereien sind zu einer wiederkehrenden Tragödie in den Vereinigten Staaten geworden. Im Beitrag wird dies aus einer jungianischen Perspektive untersucht. Während sich ein Großteil des Diskurses nach der Gewalttat um Schuldzuweisungen und die Debatte über Waffenkontrolle dreht, soll darüber nachgedacht werden, was in der individuellen und kollektiven Psyche nicht stimmig ist. Untersucht wird die symbolische Bedeutung der Waffe in der amerikanischen Geschichte und Kultur bis heute. These ist, dass die Gewalttaten auf eine archetypische Besessenheit hinweisen, die Konstellation eines kulturellen und persönlichen Waffenkomplexes, in dem Schattenaspekte einschließlich Macht, Wut und Aggression mit zerstörerischen und tödlichen Folgen zum Ausdruck kommen. Ausgehend vom Mythos des Ares wird die Notwendigkeit der Integration der eigenen Schattenseite als persönliche wie auch kollektive Aufgabe reflektiert, um sich mit dem positiven, kreativen Potenzial der »inneren Waffe« zu verbinden.
Schlüsselwörter: Wut, Aggression, Enactment, »inner gun«, Ares, Schatten
Emma Ting Wong / Steve Eliezer Zemmelman
我們是太空人嗎? Sind wir »der Weltraummann«?
Dimensionen der analytischen Verbundenheit in einer bedrohten Welt
Zusammenfassung: Die Aus- und Weiterbildung von Analytikern wird im Zusammenhang mit den dramatischen Veränderungen in der Welt, die sich insgesamt auf das Geschehen im Sprechzimmer auswirken, neu kontextualisiert. Die Idee des Therapieraumes selbst hat sich in eine virtuelle Form verwandelt, in einen gemeinsamen Raum, der keiner ist, sondern ein Medium für Interaktion, das seine eigene Präsenz hat, selbst Einfluss auf den Ablauf des Prozesses nimmt und als »dritter« Faktor fungiert. Manchmal scheint dieses Medium ein Feld zu sein, das auf seine eigene Weise mit den psychischen Energien in Resonanz geht, die es durchqueren. Der Übergang von der persönlichen Interaktion zur Online-Arbeit kann zu einem Verlust an Intimität und einer Entfremdung vom Körper führen, aber er kann auch neue Dimensionen des Bewusstseins bringen, wenn er als unabhängiger Faktor in die therapeutische oder supervisorische Beziehung kommt. Welche Auswirkungen hat dies auf unsere Arbeit und Entwicklung? Dieser Beitrag, der von einer Analytikerin in Hongkong und einem Supervisor in San Francisco gemeinsam verfasst wurde, beschreibt die Auswirkungen der dramatischen Veränderungen in der Welt auf unsere Beziehung. Wir haben versucht, Dimensionen der zeitgenössischen klinischen Praxis zu entschlüsseln, die sich zunehmend in einem Zustand des Dazwischenseins befindet.
Schlüsselwörter: Beziehung, Supervision, Simulacrum, Psychoid, Raumfahrer
Véronique Liard
Literatur und Analytische Psychologie: Schreiben als Individuationshilfe
Zusammenfassung: C.G. Jung hat sich früh und dauerhaft mit Literatur beschäftigt: Goethe, Schiller, Dante, Haggard, E.T.A. Hoffmann, Hölderlin, Kubin und Nerval, um nur einige der zahlreichen Autoren zu nennen, haben sein eigenes Denken und seine eigenen Werke nachhaltig beeinflusst. Er analysierte in mehreren Schriften die Beziehungen zwischen Analytischer Psychologie und Literatur. Als Germanistin interessiert mich dieses Thema schon lange. Mein Ziel ist, zu erkunden, inwieweit Schreiben eine therapeutische Wirkung haben kann und als Individuationshilfe nützlich sein kann, wobei der Fokus ganz besonders auf Gefühle gerichtet wird. In einem ersten Teil soll ergründet werden, was Schriftsteller im 20. und 21. Jahrhundert über das Schreiben, über Erfahrungen, Emotionen, Motivation und zu Papier gebrachte Worte sagten bzw. sagen. In einem zweiten Teil soll das Werk von Patrick Roth angesprochen werden, der sich auf die Tiefenpsychologie C.G. Jungs bezieht. Im dritten Teil wird schließlich das therapeutische Schreiben angesprochen – dies ebenfalls unter Bezugnahme auf Jungs Denken.
Schlüsselwörter: Literatur, Kunst, Motivation, Emotionen, Schreibateliers
Friederike Hoffmann
Vom Innen und Außen der psychischen Realität
Soziologische Zeitdiagnosen und psychodynamisches Verstehen
Zusammenfassung: In soziologischen Gesellschaftsanalysen wird ein Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Gegebenheiten der Postmoderne und psychischen Erkrankungen konstatiert. So sollen die Individualisierung (Ulrich Beck), die Tatsache, sein Leben selbst gestalten zu müssen (Alain Ehrenberg) oder die zunehmende soziale Beschleunigung Menschen überfordern und psychisch krank machen. Vor diesem Hintergrund wird der Frage nachgegangen, ob die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben, in der analytischen Psychologie zu wenig Beachtung finden. Obwohl die analytische Psychologie wenig von soziologischem Denken beeinflusst ist und auch die Soziologie kaum das Denken der analytischen Psychologie aufnimmt, wird der Versuch unternommen, beides miteinander zu verschränken. Hierfür wird zuerst genauer untersucht, was mit »Außen« und »Innen« in den Disziplinen der Psychologie und Soziologie jeweils gemeint ist. Schließlich werden theoretische Überlegungen angestellt, inwiefern mit der Komplextheorie die Schnittstelle zwischen dem psychischen Innen und dem gesellschaftlichen Außen fassbar gemacht werden kann.
Schlüsselwörter: Soziologie, Gesellschaft, Sozialisation, Komplextheorie
Henriette Heide-Jorgensen
Eine Ergänzung zu Jungs Religionspsychologie und ein theoretischer Ansatz zur Rolle von Symbolen organisierter Religion in der Therapie basierend auf klinischem Material (Teil 2)
Zusammenfassung: Zu Beginn dieses Textes (dem zweiten von zwei Teilen) wird zunächst die klinische Grundlage dargelegt und ein Kontinuum von verschiedenen Arten von religiösen Erfahrungen präsentiert. Anschließend beschäftigt sich der Text mit dem theoretischen Argument, dass Symbole organisierter Religionen eine Rolle in der Liminalitätsphase der Analyse spielen können, ähnlich der Funktion in traditionellen Initiationsriten, in denen religiöse Symbole Containment für die chaotische mittlere Phase zwischen Auflösung und Neuschaffung bereitstellen. Religiöse Symbole sind eine Spezialform von kulturellen Symbolen und stehen mit fundamentalen Lebensbereichen im Zusammenhang; als solche sind sie geeignet, eine Containment-Funktion zu erfüllen. In der Analyse werden diese Symbole bewusst vom Individuum gewählt. Der hier präsentierte Ansatz stellt eine Ergänzung zu Jungs Auffassung von Symbolen organisierter Religion und ihrer Rolle dar.
Schlüsselwörter: relationaler Ansatz, postsäkulares Zeitalter, religiöse Symbole, Individuation, Religionspsychologie