Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie
Zeitschrift für Psychoanalyse und Tiefenpsychologie
Psychopharmakologie und psychodynamische Therapie
Printausgabe – Heft 185, 51. Jg., 1/2020
Inhalt
Vorwort
Karl Heinz Brisch
Bindung, Psychopharmaka und Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen
Annette Streeck-Fischer
ADHS und der fehlende psychische Raum
Wann ist eine medikamentöse Behandlung angezeigt und was bewirkt sie?
Ulrich Rüth / Anna Rung
Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen im Zusammenspiel mit einer Psychotherapie am Beispiel ADHS und Depression
Wolfgang Merkle
Psychopharmakotherapie und psychodynamische Psychotherapie: Das Medikament als Objekt
Die Rolle von Medikamenten in der Behandlung psychisch kranker Patienten
Holger Salge
Überlegungen zu Indikation und Kontraindikation für die kombinierte Anwendung von analytischer Psychotherapie und Antidepressiva in der Behandlung junger Erwachsener
Forum
Martin Teising
Autorität und Selbstbestimmung in der lebenslangen Entwicklung – mit Überlegungen zu ihrer Bedeutung in der heutigen politischen Situation
Forum
Ulrich A. Müller
Pharmakotherapeutische Kompetenzen von Psychotherapeut*innen: Anforderungen an die Reform der beziehungs- und sprachorientierten Psychotherapieausbildung
Buchbesprechungen
Die Autorinnen und Autoren des Heftes
Ankündigungen
Bindung, Psychopharmaka und Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen
Es werden die Vor- und Nachteile sowie der Schulenstreit zwischen einer mehr psychopharmakologischen und einer psychotherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen diskutiert und auch die jeweiligen Nebenwirkungen gegeneinander abgewogen. Hierbei wird aufgezeigt, wie besonders dem Medikament als drittem Objekt und Projektionsfläche für Übertragungswünsche von Sicherheit und Hilfe im Sinne einer Surrogat-Bindungsperson in der Beziehungsdynamik der Therapie eine große Rolle zukommt. In einem integrativen Ansatz wird die Möglichkeit einer kombinierten Behandlung sowie eine intensive stationäre psychotherapeutische Behandlung nach dem MOSES-Therapiemodell vorgestellt.
Stichwörter: Bindungsstörungen, Bindungstheorie, Kinderpsychotherapie, psychische Störungen, Psychopharmakologie.
Annette Streeck-Fischer
ADHS und der fehlende psychische Raum
Wann ist eine medikamentöse Behandlung angezeigt und was bewirkt sie?
Die dimensionale Sicht auf ADHS hat lange Zeit den Blick darauf verstellt, dass es sich um ein komplexes Störungsbild auf unterschiedlichen Niveaus der Entwicklung handelt. Am Beispiel eines Jungen wird auf die Vielfalt des Störungsbildes und auf Unterschiede zwischen einer Entwicklungs- und Konfliktpathologie unter Einbeziehung von neurobiologischen und sensomotorischen Befunden verwiesen. Bezugnehmend auf das Modell der Dimensionalität (Meltzer) werden die Bedeutung des kollabierten oder nicht entwickelten psychischen Raumes und die daraus sich ergebenden Probleme der Psychotherapie dargestellt. Die Wirksamkeit, Gefahren und Grenzen der medikamentösen Behandlung werden in Relation zum Niveau der strukturellen Entwicklung diskutiert.
Peters Eltern berichten, er sei ein ADHS-Kind. Er könne sich auf nichts richtig einlassen und könne auch nicht richtig spielen. Zuhause gebe es heftige Machtkämpfe mit viel Gebrüll. Er habe keine Freunde, sitze meistens allein am Computer, sonst habe er keine Interessen. Er leide unter Schlafstörungen, schlafe nur mit Licht und komme oft ins Bett der Eltern, wo er richtig ›Rambazamba‹ mache.
Bereits in dieser kurzen Fallvignette werden die typischen Symptome der ADHS deutlich: die mangelnde Aufmerksamkeitsspanne, die Hyperaktivität und die Impulsivität. Da erscheint es naheliegend, wenn Ärzte – insbesondere Kinderärzte und Kinderpsychiater – auf Medikamente wie Methylphenidat (Ritalin, Concerta u. a.) zurückgreifen, die eine schnelle Besserung versprechen. Die Frage der medikamentösen Behandlung solcher Störungen ist anhaltend ein heißes Eisen. Von vielen, insbesondere von psychodynamisch Denkenden, wird eine medikamentöse Behandlung kritisch hinterfragt oder abgelehnt. Um zu verdeutlichen, wann und inwieweit eine solche Behandlung auch sinnvoll sein kann, werden das Störungsbild und die sich daraus ergebenden Probleme für die Psychotherapie einer genaueren Betrachtung unterzogen.
Schlüsselwörter: ADHS, psychischer Raum, Abwehrformationen, Psychotherapie, Medikation.
Ulrich Rüth / Anna Rung
Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen im Zusammenspiel mit einer Psychotherapie am Beispiel ADHS und Depression
Anhand von ADHS als extroversiver Störung und Depression als introversiver Störung werden Grundlagen der symptomorientierten Psychopharmakotherapie, epidemiologische Häufigkeiten der Verordnung, Off-label-Use und die Kombination mit Psychotherapie dargelegt. Vertieft wird dann die jeweilige Wirkung der Medikation in Richtung der Konflikt- wie Strukturachse der OPD analysiert. Für Methylphenidat zeigt sich hier relativ leicht nachvollziehbar eine Hebung des strukturellen Funktionsniveaus mit sekundären Wirkungen auf der Konfliktachse, insbesondere in Richtung von narzisstischen Selbstwertkonflikten. Bei ohnehin viel geringerer Evidenz der Wirksamkeit von Antidepressiva gegenüber Methylphenidat stellt sich die Psychodynamik depressiver Zustände gegenüber der ADHS deutlich komplexer dar: Konflikt- und Strukturebene sind hier individualisierter, altersspezifischer und weniger klar identifizierbar miteinander verwoben. Eine hohe Komorbiditätsrate u. a. in Richtung Angststörungen, die relativ hohe Rate antidepressiv behandelter Jugendlicher mit Aspekten einer beginnenden Persönlichkeitsstörung und die unspezifische Wirkung von Antidepressiva auf andere Symptome, wie z. B. auch auf Angst und Zwang, erschweren eine Einordnung der psychodynamischen Wirkung einer antidepressiven Medikation. Es wird diskutiert, ob es einen Zusammenhang gebe von geringerer Effektstärke der antidepressiven Medikation bei Kindern und Jugendlichen – gegenüber Methylphenidatgabe – mit einer geringeren Wirkung in Richtung von zugrundeliegenden Konflikten und Strukturaspekten. Fallvignetten aus der Praxis verdeutlichen die Überlegungen der Autoren.
Schlüsselwörter: Psychopharmakotherapie, Kinder- und Jugendliche, Psychodynamik, OPD, Konflikt, Struktur.
Wolfgang Merkle
Psychopharmakotherapie und psychodynamische Psychotherapie: Das Medikament als Objekt
Die Rolle von Medikamenten in der Behandlung psychisch kranker Patienten
Die Rolle des Medikamentes in psychotherapeutischen Behandlungen wird immer wieder insbesondere von psychoanalytischen Behandlern sehr kritisch diskutiert. In diesem Artikel wird die Möglichkeit der objektalen Funktion des Medikamentes bei verschiedenen psychischen Störungen diskutiert und am Fallbeispiel eines depressiven Adoleszenten ausführlich beschrieben und diskutiert. Der Autor stellt die Hypothese auf, dass bei gewissen Ablösungsproblemen das Medikament gleichzeitig szenisches Agieren darstellt, als auch den hilfreichen Dritten verkörpern kann.
Schlüsselwörter: Psychopharmakologie, analytische Jugendlichenpsychotherapie, das Medikament als Objekt, Depression bei Jugendlichen.
Holger Salge
Überlegungen zu Indikation und Kontraindikation für die kombinierte Anwendung von analytischer Psychotherapie und Antidepressiva in der Behandlung junger Erwachsener
Es wird der Versuch unternommen, einige Schwierigkeiten aufzuzeigen, die aus der kombinierten Behandlung mit (psychoanalytischer) Psychotherapie und Psychopharmaka erwachsen können. Während die Beurteilung von Interaktionen zwischen verschiedenen Medikamenten einen zentralen Fokus der Pharmakologie darstellt, wird den sicherlich auch bestehenden Interaktionen zwischen Psychotherapie und Psychopharmakologie bislang bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Die Überlegungen werden dabei anhand der behandlungstechnischen Besonderheiten der Gruppe der Spätadoleszenten entwickelt und bleiben im Wesentlichen auf die Stoffgruppe der Antidepressiva begrenzt und sind insofern ausgesprochen unvollständig.
Schlüsselwörter: Psychoanalytische Psychotherapie, Psychopharmakologie, Spätadoleszenz, Antidepressiva, Behandlungstechnik.