Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie
Zeitschrift für Psychoanalyse und Tiefenpsychologie
Psychodynamische Interventionen
Printausgabe – Heft 180, 49. Jg., 4/2018
Inhalt
Vorwort
Marianne Leuzinger-Bohleber / Nora Hettich
In welcher Weise kann die Psychoanalyse zur Betreuung heutiger Geflüchteter beitragen?
Einige Erfahrungen aus dem Projekt STEP-BY-STEP, einem Pilotprojekt zur Unterstützung von Geflüchteten in der Erstaufnahmeeinrichtung »Michaelisdorf« in Darmstadt
Patrick Meurs / Nora Hettich
Geflüchtete Kinder im Blick behalten ...
Supervision als reflexiver Raum für das Wahrnehmen kindlicher Entwicklungen und Bedürfnisse
Sebastian Leikert / Anette Brock / Peter Brüseke
Das Pendel der Integration – Konstellationen des Drogenmissbrauchs im interkulturellen Kontext
Ulrike Krüger-Degenkolbe
Zum Glück gibt es Reißverschlüsse – Wenn Löcher und Knöpfe Angst machen
Fall eines 6-jährigen Jungen nach medizinisch indizierter Zirkumzision
Sigrun Anselm
Angst vor Beschämung – ein Antrieb der Individualisierung
Dagmar Ambass
Spielerische Übergänge in der Fadenspule – eine Empfangsstätte für kleine Kinder und ihre Eltern
Werkstattbericht
Brigitte Schiller
Ein Kind ohne Chancen? – Fallvorstellung von Mesud (6;8 Jahre)
Sibille Boldt
Aspekte professionsspezifischer Selbsterfahrung im Umgang mit dem Scenospiel
Buchbesprechungen
Die Autorinnen und Autoren des Heftes
Ankündigungen
In welcher Weise kann die Psychoanalyse zur Betreuung heutiger Geflüchteter beitragen?
Einige Erfahrungen aus dem Projekt STEP-BY-STEP, einem Pilotprojekt zur Unterstützung von Geflüchteten in der Erstaufnahmeeinrichtung »Michaelisdorf« in Darmstadt
Ausgehend von Erfahrungen im Pilotprojekt »STEP-BY-STEP« wird die Frage diskutiert, ob und in welcher Weise die Psychoanalyse ihren spezifischen Beitrag zur Betreuung von Geflüchteten leisten kann, die seit 2015 nach Deutschland gekommen sind. Das Pilotprojekt wurde vom 15.1.2016 bis zum 31.3.2017 vom Sigmund-Freud-Institut (M. Leuzinger-Bohleber u. a.) und der Goethe-Universität (S. Andresen u. a.) durchgeführt und vom Hessischen Sozialministerium unterstützt. Die politisch Verantwortlichen wollen besonders vulnerable Gruppen von Geflüchteten (allein reisende Mütter mit Kleinkindern, Familien, Schwangere, allein reisende junge Frauen sowie besonders traumatisierte Flüchtlinge), die Hessen zugeteilt werden, direkt in der Erstaufnahmeneinrichtung »Michaelisdorf« in Darmstadt unterbringen. Das Projekt bot – zusammen mit den Teams vor Ort – eine erste professionelle Betreuung – im Sinne von »First Steps« –, die anschließend durch »Second Steps« langfristig intensiviert werden kann. Erfreulicherweise diente inzwischen das Modellprojekt als Grundlage für die Einrichtung von vier Psychosozialen Zentren in Hessen.
Schlüsselwörter: Geflüchtete, Traumatisierung, Retraumatisierung, Flucht, Vertreibung, Desintegration, psychoanalytische Projektarbeit, Migration.
Patrick Meurs / Nora Hettich
Geflüchtete Kinder im Blick behalten ...
Supervision als reflexiver Raum für das Wahrnehmen kindlicher Entwicklungen und Bedürfnisse
Kinder geraten auf und nach der Flucht häufig aus dem Blickfeld, wodurch ihre Entwicklungsbedürfnisse unbeantwortet bleiben und die kindliche Entwicklung zu kurz kommt. Kinderfreundliche Räume in Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüchete sind eine notwendige Voraussetzung, damit Kindern während einer Kindheit auf der Flucht eine bessere Zukunft ermöglicht wird. Psychoanalytisch orientierte Supervision bildet zusätzlich ein erforderliches Element, wenn dieses Ziel tatsächlich erreicht werden soll. Eine solche Supervision verhindert, dass die kindliche Entwicklung ungeachtet aller bewussten gegenteiligen Anstrengungen unter dem Druck der Anspannung und den Anpassungstendenzen, die in den Erstaufnahmestellen für Geflüchtete herrschen, aus den Augen verloren wird. Das Konzept des STEP-BY-STEP-Projekts mit seinen child friendly spaces und die wöchentlichen Supervisionen für das Betreuungspersonal sind ein gutes Beispiel dafür, wie eine kinderfreundliche Betreuung von Geflüchteten durch psychoanalytische Sichtweisen auf das Kind und die Kindheit verbessert werden kann. War es denn nicht gerade die Psychoanalyse, die die Bedeutung der (früh-)kindlichen Erfahrung in die Behandlung von Neurosen einführte (Freud, 1896)? Und ist diese analytische Einsicht in den Zeiten der »Flüchtlingskrise« und der sich ändernden Atmosphäre der Debatte um Geflüchtete nicht äußerst aktuell?
Schlüsselwörter: Geflüchtete Kinder, Familienkrisen, Entwicklung in der Kindheit, Prävention, Supervision, Migration, Trauma.
Sebastian Leikert / Anette Brock / Peter Brüseke
Das Pendel der Integration – Konstellationen des Drogenmissbrauchs im interkulturellen Kontext
Mit dieser qualitativen psychoanalytischen Studie wird nach den Motiven und Konfliktlagen gefragt, die zu polytoxikomanem Substanzmissbrauch im interkulturellen Kontext führen. Wir gingen dem Eindruck nach, dass Patienten mit muslimischem bzw. russischem Hintergrund aus anderen Gründen Drogen konsumieren als deutsche Patienten. Es zeigte sich, dass die Fixierungsstelle bei deutschen Patienten in der Primärbeziehung lag, während die Primärbeziehung bei muslimischen bzw. russischstämmigen Patienten in je verschiedener Weise ausreichend gut bzw. verwöhnend gewesen war, sodass primäre Größenphantasien nicht abgebaut wurden. Der Konfliktschwerpunkt lag bei beiden Gruppen in je unterschiedlicher Weise im Übergang zu männlichen Identifizierungen, d.h. bei Eintritt in den Ödipuskomplex. Weiterhin beschreiben wir spezifische Schwierigkeiten, wenn die Migration in die sensible Phase der Adoleszenz fällt. Neben biographischen Momenten untersuchten wir, wie das »Pendel der Integration« – unser Begriff für den Prozess des Vertraut-Werdens im interkulturellen Raum – auch für die Ausrichtung der Behandlungstechnik und die Dynamik der Forschungsbeziehung eine Rolle spielt.
Schlüsselwörter: Drogenkonsum, interkultureller Kontext, Migration, muslimischer Ödipuskomplex, russischer Ödipuskomplex, Adoleszenz, Forschungsbeziehung.
Ulrike Krüger-Degenkolbe
Zum Glück gibt es Reißverschlüsse – Wenn Löcher und Knöpfe Angst machen
Fall eines 6-jährigen Jungen nach medizinisch indizierter Zirkumzision
Die Kasuistik leitet aus psychoanalytischer Sichtweise die Entstehung der Knopfphobie eines 6-jährigen Jungen ab. Die Phobie entstand vor dem Hintergrund einer langjährigen konservativen Phimose-Behandlung und der anschließenden Zirkumzision. Die Behandlungsprozedur mit einer corticoidhaltigen Salbe wurde durch die Mutter an ihrem Sohn vorgenommen und verstärkte den Inzestwunsch und die Inzestangst und somit auch die Kastrationsangst des Jungen. Beiderseitiges inzestuöses Begehren überlagerte die psychosexuelle Entwicklung des Patienten. In der Therapie nutzte der Junge das Sandspiel, um seine archaischen Ängste symbolisch darzustellen. Die Behandlung überschnitt sich mit der Aktualisierung der AWMF-S1 Leitlinie »Phimose und Paraphimose«, in der ein Paradigmenwechsel hinsichtlich Diagnose und Behandlungsindikation vorgenommen wurde. Die psychoanalytische Sichtweise nimmt einen nicht unerheblichen Stellenwert in der überarbeiteten Leitlinie ein; das geschilderte Fallbeispiel diente zur Illustration, wie tief medizinische Empfehlungen in die psychische Entwicklung von Kindern eingreifen können.
Schlüsselwörter: Beschneidung, Inzest, Kastrationsangst, Phimose-Behandlung, Phobien.
Sigrun Anselm
Angst vor Beschämung – ein Antrieb der Individualisierung
In den letzten Jahrzehnten ist der Begriff Individualisierung wieder ins Zentrum soziologischer und sozialphilosophischer Debatten gerückt. Das hat zwei Gründe: Zum einen ist die Berufswelt von individualisierten Berufsbiographien geprägt, zum anderen und infolge davon verändern sich die Anforderungen an die Selbstverantwortung des Einzelnen. Das selbstverantwortete Leben findet seine Bewährung im sozialen Aufstieg; gelingt dieser nicht, droht ein Abgleiten in die Depression, die von Soziologen und Psychiatern als Krankheit der Epoche bezeichnet wird.
Der Bruchpunkt in dem selbstverantworteten Leben ist der Verlust der Selbstachtung, hervorgerufen durch Beschämungen vielfältigen Ursprungs. Es geht hier nicht um die Scham aufgrund über Jahrhunderte im Herrschaftsgefälle kodierter Anlässe, sondern um das Gefühl der Unterlegenheit im allgegenwärtigen Konkurrenzkampf, das sich als Schamgefühl äußert.
Scham ist eng verknüpft mit dem Narzissmus, sie ist sozusagen der narzisstische Mangel, der jede Beziehung zwischen dem Ich und dem Du unterläuft. Begleitet und grundiert von Neid, der den Narzissmus verstärkt, führt die Scham zur Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, indem sie die Individualisierung befördert.
Das narzisstische Ich, von Schamangst getrieben, ist zur Anpassung gezwungen, um handlungsfähig zu sein. Um sich im allgegenwärtigen Konkurrenzkampf zu bewähren, bedarf es einer Reihe persönlicher Charakteristika, deren wichtigste die Autonomie ist. Da es keinerlei institutionelle Grenzen gibt, die den Einzelnen schützen, tendiert die Gesellschaft als ganze dazu, folgt man Ehrenberg, ausschließlich Gewinner oder Verlierer hervorzubringen. Ein Außerhalb des Konkurrenzkampfs gibt es nicht.
Schlüsselwörter: Individualisierung, Scham, Beschämung, Narzissmus, Neid.
Dagmar Ambass
Spielerische Übergänge in der Fadenspule – eine Empfangsstätte für kleine Kinder und ihre Eltern
Bei der Fadenspule handelt es sich um eine Empfangsstätte für kleine Kinder (null bis drei Jahre) und ihre Eltern sowie andere Bezugspersonen, welche von jeweils drei Empfangspersonen mit einem Bezug zur Psychoanalyse begleitet wird. Sie orientiert sich am Modell der Maison Verte, Paris, einem lieu d’accueil enfants parents (LAEP), der in Paris von F. Dolto und anderen Psychoanalytikern und Sozialarbeitern vor nahezu 40 Jahren gegründet wurde. Das auf Zürich adaptierte Konzept der Fadenspule wird im Folgenden vorgestellt. Anhand von Fallbeispielen werden die verschiedenen möglichen Zugänge – der soziale, der pädagogische und der psychoanalytische – bei der Begleitung und Beratung der Familien vorgestellt und mit psychoanalytischen Konzepten von Freud und Lacan in Verbindung gebracht.
Schlüsselwörter: Lieu d’accueil enfants parents (LAEP), Prävention, Anonymität, Subjekt, Psychoanalytisches Hören.