Luzifer-Amor
Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse
Harald Schultz-Hencke
E-Journal (pdf); Heft 73, 37. Jg., 1/2024
Inhalt
Editorial
Schwerpunkt:
Harald Schultz-Hencke
Beitrag 1
Steffen Theilemann
Sigmund Freud an Schultz-Hencke:
Ein Brief vom 1. Oktober 1929 und seine Beantwortung
Harald Schultz-Hencke
Tagebuch Januar bis Juni 1938.
Herausgegeben von Steffen Theilemann (unter Mitwirkung von Michael Schröter)
Beitrag 2
Michael Schröter
Auseinandersetzungen um das Vermächtnis Schultz-Henckes in den 1960er-Jahren. Eine Dokumentation mit Randbemerkungen
Beitrag 3
Werner Köpp
Die Bedeutung neoanalytischer Konzepte von Harald Schultz-Hencke für die Psychosomatik
Beitrag 4
Tilo Naatz
Das ältere und das neuere Berliner DPG-Analyseverständnis – Gewinn oder Verlust?
Aus der Forschung
Beitrag 5
Johann Georg Reicheneder
Zur Konstruktion des Sprachapparates bei Freud (1891).
Gehirnanatomie – sinnliche Wahrnehmung – (psychisches) Erleben
Beitrag 6
Georg Augusta
Die frühen Jahre der »Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft« (1902–1906)
Beitrag 7
Thomas Fischer und Christfried Tögel
Der Briefwechsel zwischen Emma Jung und Sigmund Freud
Rezensionen und Anzeigen
Christfried Tögel (Hg.): Freud-Diarium (Molnar)
Die Rundbriefe des »Geheimen Komitees«. Nachtragsband: 1927–1936,
hg. von G. Wittenberger und C. Tögel (Huppke)
Herzog: Cold War Freud (Hoffmann)
Hermanns u. Schultz-Venrath (Hg.): Gruppenanalyse in Selbstdarstellungen (M. Fischer)
Mertens (Hg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe (Hermanns)
Weitere Neuerscheinungen und Neuauflagen
Sigmund Freud an Harald Schultz-Hencke: Ein Brief vom 1. Oktober 1929 und seine Beantwortung
Es wird ein Brief vom 1. Oktober 1929 erstmals veröffentlicht, in dem Freud einen Aufsatz von Harald Schultz-Hencke über Fragen der analytischen Technik, den dieser eigens für ihn verfasst hatte, kommentiert. Die sieben Punkte aus diesem Aufsatz, die Freud erwähnt, finden sich auch in einem wenig späteren Vortrag Schultz-Henckes über den »Heilungsfaktor in der Psycho-Analyse«. Zentral ist darin die Erläuterung der Techniken der »Aufklärung« und »Verführung«. Ferner werden zwei Entwürfe von Antwortbriefen abgedruckt, in denen Schultz-Hencke seine Unterscheidung von genetischen und rezenten Deutungen mit ihrem jeweils unterschiedlichen Einfluss auf das Bewusstwerden verdrängter Kindheitserinnerungen und zuvor gehemmter Impulse erläutert. Mit seinen Überlegungen versucht er, bisher in der Theorie der Technik nicht genügend beschriebene Prozesse, die in der Praxis der Analytiker ständig verwendet werden, systematisch zu beschreiben und konzeptuell in die Theorie einzufügen, womit er bei Freud wenig Gehör fand. Schultz-Hencke wirft in seinem Brief auch die Frage auf, ob er sich noch »als Analytiker betrachten« solle. Diese Frage wird in ihr zeitliches Umfeld, die Ereignisse in der DPG, die im Entzug der Lehrbefugnis am BPI für Schultz-Hencke im Frühjahr 1929 kulminierten, eingeordnet. Freuds Antwort auf die Frage ist, bezogen auf die Gegenwart, eine bejahende, mit Blick auf die weitere Entwicklung Schultz-Henckes eine zweifelnde.
Michael Schröter
Auseinandersetzungen um das Vermächtnis Schultz-Henckes in den 1960er-Jahren. Eine Dokumentation mit Randbemerkungen
Die Arbeit bezieht sich erstens auf den großen Aufsatz von 1963, in dem Helmut Thomä Kritik an der Neopsychoanalyse und ihrer durch die NS-Zeit begünstigten Gruppenbildung übte. Sie verwertet dabei zwei informelle Kommentare aus den Reihen der DPV (Käthe Dräger, Horst-Eberhard Richter) und betont, dass der Aufsatz von Seiten der DPG zunächst totgeschwiegen wurde. Zweitens wird eine briefliche Kontroverse zwischen Werner Schwidder (DPG) und Tobias Brocher (DPV) dargestellt, in der es um die Frage ging, ob sich die Neopsychoanalyse mit Recht als »Psychoanalyse« bezeichnen könne.
Werner Köpp
Die Bedeutung neoanalytischer Konzepte von Harald Schultz-Hencke für die Psychosomatik
Mit der Entdeckung und Beschreibung der Konversion gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwarf Sigmund Freud das erste psychoanalytische Psychosomatik-Konzept. Es zeigte sich im Folgenden rasch, dass dieses Konzept bei seelischen Störungen, die die inneren Organe mit einbezogen, nur eine begrenzte Reichweite hatte. Harald Schultz-Hencke – Psychiater und Psychoanalytiker – spielte seit den 1920er-Jahren eine bedeutsame Rolle für die Entwicklung einer psychosomatischen Medizin in Deutschland. In seiner antriebspsychologischen Neurosenlehre nimmt er vielfach Bezüge zu den inneren Organen an. Seine Konzepte sind ich-psychologisch geprägt und weisen Parallelen zu den damals formulierten psychosomatischen Ideen von Franz Alexander auf. In dieser Arbeit werden vor allem zwei zentrale Konzepte Schultz-Henckes für die Psychosomatik erörtert: das Gleichzeitigkeitskorrelat und sein Konzept der Intentionalität.
Tilo Naatz
Das ältere und das neuere Berliner DPG-Analyseverständnis – Gewinn oder Verlust?
Der Autor versucht aus seiner wissenschaftstheoretischen Sicht, die in der Nach-Schultz-Hencke-Zeit in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) verlorenen wissenschaftlichen Vorteile der Neurosentheorie Schultz-Henckes zusammenzufassen und gegen den »Fortschritt« des neuen psychoanalytischen Mainstreams in der DPG abzuwägen. Dabei kommt er zu einer recht pessimistischen Prognose für den weiteren Bestand von psychoanalytischer Theorie und Therapie in Deutschland.
Johann Georg Reicheneder
Zur Konstruktion des Sprachapparates bei Freud (1891). Gehirnanatomie – sinnliche Wahrnehmung – (psychisches) Erleben
Der Beitrag untersucht die Konstruktion von Wort und Sprache in Freuds Analyse der Sprachstörungen von 1891. Dabei zeigt sich, daß Freud zentrale Ideen für diese Studie bereits ab 1885 entwickelte. Sie enthalten im Kern eine grundlegende Kritik der zeitgenössischen neurologischen Forschung. An die Stelle einer topographischen Niederlegung einzelner Funktionen der Sprache, wie etwa das Wort, setzt Freud einen assoziativen Vorgang, an dem wesentlich die Sinneswahrnehmungen von Sehen, Hören sowie die zugehörigen sensomotorischen Wahrnehmungen des Sprechens (Muskelinnervationen von Mund, Zunge, Lippen) sowie des Schreibens (Arm-, Hand- und Augenmuskelmotorik) beteiligt sind. Da das Sprechenlernen unabdingbar an ein Objekt gebunden ist, das spricht, und dessen Stimme gehört wird, ist in der Sprache neben den lexikalischen Bedeutungen auch die Beziehung mitsamt ihrer affektiven Struktur zu diesem »Anderen« enthalten und fortwährend präsent. Als neurologische Basis für diese Leistungen identifiziert Freud die »grauen Massen«. Sie sichern die Herstellung vielfältigster Verbindungen physiologischer Signale sowie ihre Weiterleitung ins zentrale Nervensystem. Als Grundlage dieser Prozesse erkennt Freud die »Assoziation«. Sie wird so zu einem zentralen Begriff für seine Konstruktion der Sprache und zum Ausgangspunkt des späteren psychoanalytischen Assoziationsbegriffs. Auf Fortentwicklungen dieser Überlegungen bei Freud und in späteren psychoanalytischen Forschungen wird hingewiesen.
Georg Augusta
Die frühen Jahre der »Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft« (1902–1906)
Die Rekonstruktion der nicht protokollierten Sitzungen der Mittwoch-Gesellschaft zwischen November 1902 und Oktober 1906 gibt Aufschluss über den Ursprung psychoanalytischer Institutionalisierung. Vor allem Wilhelm Stekel, der auch die Gründung der Gruppe initiiert hatte, verdankten sich wesentliche Impulse. In einem Klima offener Diskussionskultur versuchte die Gruppe, Psychoanalyse auf verschiedene Bereiche anzuwenden; aktuelle Literatur wurde diskutiert und Referenten eingeladen. Bereits zu dieser Zeit wurden Texte von C. G. Jung und Eugen Bleuler besprochen. Während Falldarstellungen noch mehr oder weniger auf Freud beschränkt blieben, folgten einzelne Mitglieder der Aufforderung Freuds, ihre Kinder zu beobachten, um Erkenntnisse über infantile Sexualität aus erster Hand zu erhalten.
Thomas Fischer und Christfried Tögel
Der Briefwechsel zwischen Emma Jung und Sigmund Freud
Nachdem von dem Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Emma Jung nur die Briefe Emmas bekannt waren, werfen die wieder aufgetauchten Briefe Freuds ein helleres Licht auf die Frage, wie sich Jungs »Wandlungen und Symbole der Libido« auf Freuds Verhältnis zu seinem Schüler und Kollegen ausgewirkt haben. Überdies tritt die persönliche Beziehung zwischen dem Wissenschaftler und der Ehefrau des Kollegen deutlicher zu Tage. Zum Beispiel bietet er ihr in dem Brief vom 1. Dezember 1911 an, dass wenn sie jemals als Autorin ein Stück zur Psychoanalyse beitragen werde, er für sie die vor der Gründung stehende Zeitschrift Imago für die Veröffentlichung zur Verfügung stellen werde. Diese fachliche Anerkennung als Psychoanalytikerin durch Freud selbst löst Emma Jung von der Rolle als »bloßer« Ehefrau des Kollegen, als die sie in der Literatur und Cinematographie oft dargestellt worden ist.