
Luzifer-Amor
Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse
Prag I – Die Psychoanalyse in der Tschechoslowakei 1933–1970
Printausgabe – Heft 68, 34. Jg., 2/2021
Inhalt
Editorial
Themenschwerpunkt:
Prag I – Die Psychoanalyse in der Tschechoslowakei 1933–1970
Michael Giefer
Die Entwicklung der Psychoanalyse in der Tschechoslowakei von den Anfängen bis 1939
Michael Šebek
Wer war der Psychoanalytiker Emanuel Windholz (1903–1986)?
Eugenia Fischer
Theodor (Bohodar) Dosužkov
David Holub
Dr. Otakar Kučera (1906–1980). »Psychoanalytiker, sei das Salz der Erde!«
Aus der Forschung
Albrecht Hirschmüller
»Die Kur ist mir sehr schwer gefallen, nach und nach gewöhnte ich mich an die Methode, besonders, da mir Dr. Freud durchaus sympathisch ist«. Maggie Haller – eine Patientin Freuds
Thomas Kurz
Unerkennbar, selbst für ihre Freunde.
Biografisches zur Berliner Analytikerin Elisabeth Naef, geborene Rosenbaum, und ihrer Tochter Gerda
Georg Augusta
Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Psychiatrie in Österreich III:
Psychoanalyse im Kontext der Wiener medizinisch-akademischen Vereine bis 1938
Kleine Mitteilungen
Katarzyna Swita
34. Symposion zur Geschichte der Psychoanalyse, 26. bis 28. Februar 2021
Rezensionen und Anzeigen
Métraux (Hg.): Sigmund Freud. Unglaube auf der Akropolis: Ein Urtext und seine Geschichte. (Molnar)
Fagard/Gindele (Hg.): Sigmund Freud: L’homme Moïse, un roman historique (Schröter)
Herrmann/Benetka (Hg.): Siegfried Bernfeld: Psychoanalyse – Psychologie – Sozialpsychologie. Studien zu ihrer Theorie und Methodologie. Werke, Band 10. (Reichmayr)
Liebermann: The Origins of Psychoanalysis in Israel. The Freudian Movement in Mandatory Palestine 1918‒1948. (Schröter)
Hermanns/Bouville/Wagner (Hg.): Ein Jahrhundert psychoanalytische Ausbildung. Einblicke in internationale Entwicklungen. (Herrmann)
Huppke: Global vernetzte Psychoanalyse. Die International Federation of Psychoanalytic Societies (IFPS) zwischen 1960 und 1980. (Hampel)
Weitere Neuerscheinungen und Neuauflagen
Arkadi Blatow
Thematisch geordnete Liste von Arbeiten zur Psychoanalysegeschichte in deutschsprachigen Zeitschriften (2020)
online unter: www.luzifer-amor.de – downloads
Autorinnen und Autoren
Die Entwicklung der Psychoanalyse in der Tschechoslowakei von den Anfängen bis 1939
Infolge der Emigration einer Reihe von PsychoanalytikerInnen aus Berlin nach Prag entwickelte sich dort von 1933 bis 1938 eine erste Blütezeit der Psychoanalyse. Frances Deri, Annie Reich und Steff Bornstein gründeten die Psychoanalytische Arbeitsgemeinschaft in der ČSR, die der Wiener Vereinigung angegliedert wurde. Flüchtlinge aus Deutschland und mehrere Tschechen begannen ihre psychoanalytische Ausbildung oder setzten sie fort. Zudem wurde durch öffentliche Vorträge die Psychoanalyse in der Tschechoslowakei einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Nach der Übersiedlung Otto Fenichels von Oslo nach Prag wurde auf dem Marienbader Kongress die Arbeitsgemeinschaft offiziell als Gesellschaft für das Studium der Psychoanalyse anerkannt. Als die nationalsozialistische Bedrohung 1938 gewaltig wurde, emigrierten die meisten PsychoanalytikerInnen aus Prag. Nur Theodor Dosužkov überlebte den Krieg in Prag.
Michael Šebek
Wer war der Psychoanalytiker Emanuel Windholz (1903–1986)?
Emanuel Windholz (1903–1986) war Mitbegründer und Pionier der psychoanalytischen Bewegung in der Tschechoslowakei vor dem Zweiten Weltkrieg und seit den 40er-Jahren auch Mitbegründer und Förderer des San Francisco Psychoanalytic Institute. Er wurde in der von Otto Fenichel geleiteten Prager Studiengruppe der Vorkriegszeit ausgebildet und gehörte zu der Generation europäisch-jüdischer Psychoanalytiker, die Ende der 30er-Jahre Europa verließen, um Antisemitismus, Rassismus, Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg zu entkommen. Der Leser kann mehr über sein Leben und seine berufliche Tätigkeit vor dem Krieg, während des Krieges und der Nachkriegszeit in den USA erfahren. Neben seiner reichen Ausbildungs- und Lehrtätigkeit in San Francisco und Kalifornien war Windholz in der APA im Bereich für Ausbildung und Supervision tätig und widmete sich in seinen Publikationen diesem Thema. Er hatte den Ruf einer charmanten Persönlichkeit und eines ausgezeichneten Lehrers. Er förderte das Interesse seiner Schüler an der psychoanalytischen Forschung und indirekt die Gründung von The Mount Zion Psychotherapy Research Group. Als Innovator in der Psychoanalyse entwickelte er aus einem Supervisionsansatz die Forschungsmethode der Konsensanalyse, die sich hauptsächlich auf die Untersuchung der Rolle des Analytikers im psychoanalytischen Prozess konzentriert. Die Anwendung dieser Methode zeigt auch, wie ausgeprägt ein Patient unbewusst auf die Rolle des Analytikers wirkt.
Eugenia Fischer
Theodor (Bohodar) Dosužkov
Der in Russland geborene Arzt Theodor Dosužkov war zwischen 1939 und 1982 die zentrale Persönlichkeit in der tschechoslowakischen Psychoanalyse. Anfang der Zwanzigerjahre emigrierte er nach Prag und erhielt 1927 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft. In der Prager Studiengruppe machte er seine psychoanalytische Ausbildung und überlebte als einziger Psychoanalytiker die nationalsozialistische Besetzung der Tschechoslowakei. Nach dem Krieg gründete er mit einigen Schülern die tschechoslowakische Studiengruppe neu und gab zwei psychoanalytische Jahrbücher heraus. Nach der kommunistischen Diktatur ab 1948 leitete er die Gruppe im Untergrund und hielt engen Kontakt zur Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. In ihrem Beitrag zeichnet Eugenia Fischer, die Tochter Dosužkovs, seinen Lebensweg und seine Bedeutung für die Psychoanalyse in der Tschechoslowakei nach.
David Holub
Dr. Otakar Kučera (1906–1980). »Psychoanalytiker, sei das Salz der Erde!«
Otakar Kučera spielte zwischen 1948 und 1980 eine wichtige Rolle bei der Wahrung der psychoanalytischen Bewegung und der IPA-Kontinuität in der Tschechoslowakei. Er bildete zahlreiche zukünftige Lehranalytiker und einflussreiche psychodynamische Psychotherapeuten aus, die die »alternative Kultur« innerhalb des kommunistischen Regimes verbreiteten. Er übersetzte und redigierte psychoanalytische Literatur in die tschechische Sprache, einschließlich Freuds gesammelter Schriften, und schrieb Artikel über Regression, Sublimierung und aktive Technik. Er studierte moderne französische Poesie aus psychoanalytischer Sicht. Als Kinderpsychiater wandte er psychoanalytisches Denken im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie an.
Albrecht Hirschmüller
»Die Kur ist mir sehr schwer gefallen, nach und nach gewöhnte ich mich an die Methode, besonders, da mir Dr. Freud durchaus sympathisch ist«. Maggie Haller – eine Patientin Freuds
Anhand von Briefen Freuds, Sanatoriumsakten und umfänglichem dokumentarischem Material aus Familienbesitz wird die Lebens- und Krankheitsgeschichte einer jungen Frau entfaltet, die von 1899 bis 1901 und erneut 1910 bis 1911 in Freuds Behandlung war. Es ergibt sich das Bild einer Frau auf der Suche nach mehr Autonomie und nach eigenen Zielen und Wegen abseits vorgegebener Rollenbilder. Auffallend sind Freuds unkonventionelle Gestaltung der therapeutischen Beziehung: Er nimmt die Patientin mit in seinen Familienkreis, er korrespondiert und verhandelt mit den Eltern, er bestärkt die Patientin aber in ihrem Suchen nach Autonomie in einer Art psychagogischen Umgangs. Sein Behandlungsziel bleibt begrenzt, und er verweist die Patientin am Ende auf ihre eigenen Fähigkeiten: »Sie haben jetzt genug Behandlung und sollten sich durch weiteres Leben, Lesen und Kämpfen zu einer Persönlichkeit heranbilden.«
Thomas Kurz
Unerkennbar, selbst für ihre Freunde.
Biografisches zur Berliner Analytikerin Elisabeth Naef, geborene Rosenbaum, und ihrer Tochter Gerda
Über das Leben der Berliner Analytikerin Elisabeth Naef, der Schwester des Schweizer Staranwalts Wladimir Rosenbaum, war bisher wenig bekannt. Ernest Jones sprach auf dem Luzerner IPV-Kongress 1934 nach ihrem Suizid von ihr als von »einer Frau, deren markante Persönlichkeit ihr einen Einfluß gab, der weit größer war, als ihn Außenstehende nach ihren Schriften vermuten konnten«. In der Arbeit wird das Leben von Naef und ihrer Tochter Gerda aus dem Tagebuch ihres guten Freundes Lothar Erdmann, den Tageslisten von Otto Fenichel und weiterem Archivmaterial rekonstruiert. Dem Suizidmotiv, dass Naef wegen Morphinismus nicht emigrieren konnte, hält der Autor entgegen, dass sie Schweizer Bürgerin war und zu jedem Zeitpunkt in die Schweiz hätte zurückkehren können. Er meint, dass sie sich – wie der 1939 in Sachsenhausen von den Nazis ermordete Lothar Erdmann – von Berlin nicht losreißen konnte.
Georg Augusta
Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Psychiatrie in Österreich III:
Psychoanalyse im Kontext der Wiener medizinisch-akademischen Vereine bis 1938
Nachdem Freuds Versuche gescheitert waren, innerhalb der Wiener medizinischen Vereine zu reüssieren, wurde die Psychoanalyse dort nicht mehr thematisiert. Erst durch die Gründung von neuen medizinischen Vereinen ab Beginn der 1920er-Jahre wurde eine öffentliche Auseinandersetzung jenseits etablierter psychiatrischer Lehrmeinungen möglich. Der Verein für angewandte Psychopathologie und Psychologie und der Verein für medizinische Psychologie wurden zu wichtigen Orten der Vermittlung von Psychoanalyse außerhalb der Universität. Zahlreiche Psychoanalytiker*innen der WPV konnten dort mittels Vorträgen und Seminaren Psychoanalyse einem Publikum interessierter Student*innen näherbringen. Wenngleich auch in den etablierten medizinischen Gesellschaften einzelne Versuche unternommen worden waren, Psychoanalyse wissenschaftlich zu verankern, blieb diese dort weiterhin weitgehend ausgegrenzt.