Luzifer-Amor
Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse
Prag II – Die Psychoanalyse in der Tschechoslowakei 1933–1970
E-Journal (pdf) – Heft 70, 35. Jg., 2/2022
Inhalt
Editorial
Schwerpunkt :
Prag II – Die Psychoanalyse in der Tschechoslowakei 1933–1970
Beitrag 1
Georg Augusta
Otto Pötzls Wirken an der deutschen Universität in Prag 1922–1928
Beitrag 2
Thomas Aichhorn
August Aichhorns Vortrag in Prag 1936
Beitrag 3
Michael Šebek
Jan Frank (1902–1985), tschechoslowakischer und amerikanischer Psychoanalytiker
Theodor Dosužkov
Die Psychoanalytische Bewegung in der Tschechoslowakei während des Krieges
Beitrag 4
Elke Mühlleitner
»Wir haben keine Vorstellung, was mit der europäischen Psychoanalyse geschehen wird ...« (Fenichel 1945).
Zwei Briefe Otto Fenichels an Theodor Dosužkov
Beitrag 5
Thomas Aichhorn
August Aichhorn (1878–1949) – Theodor Dosužkov (1899–1982).
Briefwechsel 1946–1948
Beitrag 6
Eduard Rys
Ladislav Haas – Ich baue hier wieder meine Insel …
Beitrag 7
Roman Telerovský
Zbyněk Havlíček im kulturellen und klinischen Strom der Psychoanalyse in der Tschechoslowakei
Beitrag 8
Hynek Forman
Ferdinand Knobloch (1916–2018)
Beitrag 9
Jiří Jakubů
Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose
Zdeněk Mrázek, Hana Junová und das Phänomen Lobeč – Horní Palata
Aus der Forschung
Jean-Daniel Sauvant
Briefe von Jean-Martin Charcot an Sigmund Freud (1888–1893)
Französisch-deutsche Ausgabe
Beitrag 10
Richard Skues
»Dr. Siegmund Freud Kassa-Protokoll« (oder die Patienten, die es nie gab): Untersuchung einer Fälschung
Beitrag 11
Christiane Ludwig-Körner
Die Familie Bardas und ihre Beziehungen zur Familie Freud
Kleine Mitteilung
Katarzyna Swita
35. Symposion zur Geschichte der Psychoanalyse 4. bis 6. März 2022, online per Zoom
Martina Harather
Das Adressbuch von Otto Fenichel
Rezensionen und Anzeigen
RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse, Nr. 94 und 95. Bioanalysen I und II (Hoffmann)
Husmann: Über 100 Jahre Autogenes Training. Exponate einer Ausstellung zur Geschichte der »konzentrativen Selbstentspannung« (Cocks)
Wittenberger: Aufstieg und Scheitern des Militärpsychologen Max Simoneit im Dritten Reich und in der Bundesrepublik Deutschland. Psychodynamisch-biographische Studie (Hoffmann)
Strauß et al.: Seelenarbeit im Sozialismus. Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie in der DDR (Tögel)
Weitere Neuerscheinungen und Neuauflagen
Otto Pötzls Wirken an der deutschen Universität in Prag 1922–1928
Mit dem Beitritt des Psychiaters Otto Pötzl in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung 1917 war ein wichtiger Protagonist der akademischen Psychiatrie gewonnen. Auch Pötzls Berufung als Leiter der psychiatrischen Klinik an der deutschsprachigen Karl-Ferdinand-Universität in Prag zwischen 1922 und 1928 trug dort zur Entwicklung der Psychoanalyse bei. Vor allem Pötzls einführende Vorlesungen in die Psychoanalyse stellten für einzelne Medizinstudenten, die später zu wichtigen Vorreitern der psychoanalytischen Bewegung avancierten, eine initiale Begegnung mit psychoanalytischer Theorie dar.
Thomas Aichhorn
August Aichhorns Vortrag in Prag 1936
Verschiedene Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung hielten in den 30er-Jahren Vorträge in der ihr angeschlossenen Prager Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft. Zu diesen gehörte August Aichhorn, der auf Einladung von Otto Fenichel am 29. Februar und 1. März 1936 in Prag seinen Gastvortrag ›Über die Handhabung der Übertragung in der Erziehungsberatung‹ hielt. Der Vortrag bildete die Grundlage für Aichhorns Aufsatz »Zur Technik der Erziehungsberatung. Die Übertragung« in der Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik.
Michael Šebek
Jan Frank (1902–1985), tschechoslowakischer und amerikanischer Psychoanalytiker
Jan Frank (1902–1985) war einer jener Psychoanalytiker, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft 1939 die Tschechoslowakei verließen, um ihr Leben vor der deutschen Besatzung zu retten. Er überlebte den Krieg in Großbritannien, entwickelte seine psychoanalytische Karriere aber erst in den USA. Er war nicht nur Psychoanalytiker, sondern wirkte auch als Psychiater und Neurologe. Er scheute sich nicht, unkonventionelle Ansichten über das Konzept der klinischen Psychoanalyse in seiner Zeit zu verbreiten. Er gehörte von Anfang an zu den wenigen Analytikern, die davon überzeugt waren, dass die damalige sogenannte Standardtechnik im Sinne der Ich-Psychologie nicht für alle Patienten geeignet war, insbesondere nicht für sogenannte ambulante Psychosen und schwere Persönlichkeitsstörungen. Frank war überzeugt, dass die analytische Arbeit mit ihnen eine Modifizierung der Technik und Individualisierung erforderte. In den 1950er-Jahren waren seine Ansichten nicht ganz unumstritten (sowohl Eissler als auch Hartmann schätzten Franks Originalität, hielten seinen Ansatz für die Arbeit mit schwierigen Patienten jedoch für fragwürdig). Frank war davon überzeugt, dass auch die Anwendung von Standardtechniken nicht steril, sondern menschlich und empathisch sein sollte. Er war der Überzeugung, dass der gelegentliche Einsatz von erzieherischen und unterstützenden Maßnahmen, wenn nötig, zur analytischen Technik gehören sollte. Frank hat nicht viel veröffentlicht, aber er genoss die kritischen Diskussionen mit Kollegen über ihre analytischen Themen. Frank war einer der amerikanischen Ich-Analytiker, der als Arzt ausgebildet war und einen großen Einblick in Literatur und Kunst hatte, was er in Form von verschiedenen Metaphern in seinem psychoanalytischen Denken nutzte.
Elke Mühlleitner
»Wir haben keine Vorstellung, was mit der europäischen Psychoanalyse geschehen wird ...« (Fenichel 1945).
Zwei Briefe Otto Fenichels an Theodor Dosužkov
Gleich nach Kriegsende entwickelte sich 1945 ein Briefwechsel zwischen Otto Fenichel und seinem ehemaligen Schüler Theodor Dosužkov in Prag, von dem zwei Briefe Fenichels erhalten geblieben sind. Die beiden Briefe lassen die Schwierigkeiten des Neubeginns für die Psychoanalyse in der Tschechoslowakei und das Bestreben von Dosužkov, Anschluss an die internationale Entwicklung der vergangenen Jahre zu finden, sichtbar werden.
Thomas Aichhorn
August Aichhorn (1878–1949) – Theodor Dosužkov (1899–1982).
Briefwechsel 1946–1948
Theodor Dosužkov, einziger in Prag überlebender Psychoanalytiker der alten Prager Studiengruppe, nahm 1946 brieflichen Kontakt zu August Aichhorn, dem einzigen in Wien verbliebenen Psychoanalytiker, auf. Der Briefwechsel der Beiden, eingeleitet und kommentiert von Thomas Aichhorn, lässt das Engagement und die Nöte der psychoanalytischen Bewegung in den ersten Nachkriegsjahren deutlich werden und vermittelt die Bemühungen der beiden Psychoanalytiker um den Wiederaufbau der psychoanalytischen Vereinigungen in beiden Städten.
Eduard Rys
Ladislav Haas – Ich baue hier wieder meine Insel…
Dieser Artikel handelt von Leben und Werk von Ladislav Haas, einer bedeutenden Persönlichkeit der ersten Generation tschechoslowakischer Psychoanalytiker. Haas ist einer der »Drei Könige des Ostens«, allesamt direkte Mitglieder der IPA, die 1963 in Stockholm anerkannt wurden, und der einzige Tschechoslowake, der in die British Psychoanalytical Society aufgenommen wurde. Der Autor verfolgt Haas’ Entwicklung von der Neurologie und Psychiatrie zur Psychoanalyse und vom Marxismus zur unvermeidlichen Ernüchterung. Als linker Psychoanalytiker wurde Haas in den 1950er-Jahren zum Ziel der regimefreundlichen Ärzte und wegen der Behandlung des kommunistischen Präsidenten Klement Gottwald für fast zwei Jahre inhaftiert. Zusammenstöße mit den Nazis und den kommunistischen Diktaturen führten wiederholt zu seiner Auswanderung (1939–1945 und 1965–1986). Dieser Artikel basiert auf unveröffentlichten Dokumenten im Archiv der Sicherheitsdienste, im Nationalarchiv in Prag und in der Korrespondenz von Haas.
Roman Telerovský
Zbyněk Havlíček im kulturellen und klinischen Strom der Psychoanalyse in der Tschechoslowakei
Zbyněk Havlíček gehörte zu den tschechischen Psychoanalytikern der 1940er- bis 60er-Jahre, die ihre Ausbildung und analytische Tätigkeit weitgehend im Untergrund ausübten. Er war gleichzeitig surrealistischer Lyriker und eng mit der literarischen Szene in der Tschechoslowakei verbunden. Der größte Teil seiner Werke konnte erst nach der politischen Wende ab den 90er-Jahren veröffentlicht werden. Als klinischer Psychologe in einer psychiatrischen Klinik befasste er sich mit der schizophrenen Welt der Poesie. Nach seiner Ausbildung zum Analytiker in den 60er- Jahren arbeitete er vor allem über die regressiven Zustände in der Analyse unter LSD-Gabe und die Verbindung von Poesie und Psychoanalyse.
Hynek Forman
Ferdinand Knobloch (1916–2018)
Der Name des Psychiatrieprofessors Ferdinand Knobloch, der bis 1969 in Prag tätig war und nach seiner Emigration eine neue Heimat in Vancouver, Kanada, fand, ist bei der Darstellung der Nachkriegsgeschichte der Psychoanalyse in der Tschechoslowakei nicht zu übersehen. Auf dem Weg von der Psychoanalyse während der Kriegszeit wuchs seine Überzeugung von der Nützlichkeit der Integration im Bereich der Psychotherapie. Das von ihm ins Leben gerufene System wird heute allgemein »Integrierte Psychotherapie« genannt. Er beeinflusste eine ganze Generation von Psychotherapeuten, nicht nur in der damaligen Tschechoslowakei. Seine Gedanken waren durchweg international übergreifend. Dank seiner Fähigkeiten und seines Ehrgeizes hat er die psychoanalytischen Ideen und das psychodynamische Denken (mit seiner eigenen Terminologie) in ein kohärentes psychotherapeutisches System überführt, das unter den Bedingungen des verstaatlichten Gesundheitssystems der frühen 1950er-Jahre angewandt wurde. Dies alles geschah unter praktischem Druck, da die Psychoanalyse für das kommunistische Regime ideologisch inakzeptabel war. Für die Leser in Deutschland stellt sich die Frage, ob man in der Geschichte der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) nach 1938 und nach 1949 in der DDR eine ähnliche Erfahrung des Totalitarismus finden kann.
Jiří Jakubů
Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose
Zdeněk Mrázek, Hana Junová und das Phänomen Lobeč – Horní Palata
Die Namen von MUDr. Zdeněk Mrázek und PhDr. Hana Junová und ihre gemeinsame, 25 Jahre andauernde Tätigkeit in den Zentren in Lobeč u Mělníka und in Horní Palata in Prag stehen in enger Verbindung mit der Entwicklung und Kultivierung der tschechischen Psychotherapie. Die beiden übertraten als Psychoanalytiker den Horizont der engen Begrenzung dieser Profession. Außer der klinischen Tätigkeit nahmen sie auch an Forschung und Ausbildung im Rahmen der Psychotherapie und Psychoanalyse teil, sowohl in der Zeit der Unfreiheit als auch nach der Revolution im Jahr 1989. Ihre Menschlichkeit, moralische Integrität, Bildung und Noblesse beeinflussten mehrere Generationen der tschechischen und slowakischen Kollegen.
Richard Skues
»Dr. Siegmund Freud Kassa-Protokoll« (oder die Patienten, die es nie gab):
Untersuchung einer Fälschung
Das »Kassa-Protokoll« ist das Rechnungsbuch eines Arztes, in dem seine Visiten und Sprechstundentermine für alle Patienten in den Jahren 1896‒1899 verzeichnet sind; es liegt in der Sigmund Freud Collection in der Library of Congress (Washington).
Das Buch hat zwar in der Sekundärliteratur wenig Beachtung gefunden, wurde aber von denen, die sich damit befasst haben, Freud zugeschrieben, und es wurden daraus Rückschlüsse auf Freuds ärztliche Praxis gegen Ende der 1890er-Jahre gezogen. Obwohl es den Namen Freuds auf dem Einband trägt, wird hier die These vertreten, dass es nicht von Freud stammt und gar nichts mit ihm zu tun hat. Es handelt sich vielmehr um eine ziemlich plumpe Fälschung. Mögliche Gründe für die Aufnahme des Dokuments in das Freud-Archiv werden ebenso erörtert wie die Frage, warum die Fälschung von der Freud-Forschung so lange unentdeckt geblieben ist.
Christiane Ludwig-Körner
Die Familie Bardas und ihre Beziehungen zur Familie Freud
Dieser Beitrag schildert die engen Beziehungen zwischen zwei Familien, die sich über viele Jahre in unterschiedlichen Kontexten begegneten. 1899 hatte Sigmund Freud Fanny Bardas in analytischer Behandlung. Ihr Sohn, Willy Bardas, ein damals bekannter Pianist und Musikwissenschaftler, eignete sich psychoanalytische Konzepte an und verwendete sie in seinen Publikationen, u. a. in der Zeitschrift Imago. Auf der anderen Seite hatte Ernst, der Sohn Freuds, engen Kontakt zur Familie Bardas gehalten und auch Anna, Freuds Tochter, erwähnte »Ernst und Willy« in ihren Briefen.
Aus heutiger Sicht könnte die Vermischung von freundschaftlicher Verbindung mit therapeutisch-professionellen Beziehungen befremdlich erscheinen. Es ist interessant, dass die damals Beteiligten aber keine Grenzverletzungen empfunden hatten.