Luzifer-Amor
Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse
Sexualwissenschaft und Psychoanalyse: Personen & Organisationen, Theorie & Praxis
Printausgabe – Heft 72, 36. Jg., 2/2023
Inhalt
Schwerpunkt :
Sexualwissenschaft und Psychoanalyse: Personen & Organisationen, Theorie & Praxis
Veronika Fuechtner
Der Sexualwissenschaftler Sigmund Freud – eine globale Perspektive
Birgit Lang und Katie Sutton
(Ver-)Handlungsräume von Sexualwissenschaft und Psychoanalyse: englischsprachige Organisationen und Zeitschriften der Zwischenkriegszeit
Heiko Stoff
»Die endokrine Formel.« Psychoanalyse und Sexualhormonforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Richard Kühl
Feuer und Blut. Zur Politisierung des Triebbegriffs nach 1918
Kevin Dubout
»Wer in aller Welt ist auf diese Weise homosexuell geworden?«
Die Rezeption der Psychoanalyse in der »Bibliographie der Homosexualität« des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen
Raimund Wolfert
In memoriam Magnus Hirschfeld. Vom Bemühen, nach 1945 an Traditionen von vor 1933 anzuknüpfen und einen diskreditierten Namen zurück in den Diskurs zu bringen. Das Beispiel Werner Becker
Aus der Forschung
Edith Schütz und Thomas Müller
»Psychoanalytische Abstinenz« in historischer Perspektive
Paolo Raile
Die Causa Zentralblatt. Machtstrukturen der frühen psychoanalytischen Community am Beispiel des Kampfes um ein bedeutendes Publikationsorgan
Marina d’Angelo
... e quindi uscimmo a riveder le stelle
Auf den Spuren von Dante in Freuds Werk
Kleine Mitteilungen
Richard Skues
Weitere Anmerkungen zum Kassa-Protokoll
Andreas Seeck
Der Einfluss von Franz Brentano auf Freuds Denken – ein kritischer Kommentar
Knuth Müller
Eissler, das Militär und die psychoanalytische Gemeinschaft – Gedanken zu Eisslers »War-Manuscript«
Ein Buch-Essay
Anthony D. Kauders
Wie schreibt man eine Geschichte der Psychoanalyse?
Zu Michael Schröters Auf eigenem Weg. Ein Buch-Essay
Katarzyna Swita
36. Symposion zur Geschichte der Psychoanalyse 3. bis 5. März 2023
Rezensionen und Anzeigen
Hegener: Im Anfang war die Schrift. (Müller)
May: Der Abschied vom Primat des Sexuellen. (Westerink)
Raile: Macht und Rivalität in Briefen. (Bruder-Bezzel)
Weitere Neuerscheinungen und Neuauflagen
Heft 73 von LUZIFER-AMOR erscheint im Frühjahr 2024 und hat den Schwerpunkt »Harald Schultz-Hencke«.
Der Sexualwissenschaftler Sigmund Freud – eine globale Perspektive
Dieser Beitrag beleuchtet die Beziehung zwischen Psychoanalyse und Sexualwissenschaft in ihrem frühen Globalisierungsprozess anhand von vier Beispielen: Indien (Karve), Mexiko (Carrancá y Trujillo/Argüelles/Quiroz), Japan (Tetsu), und Brasilien (Irajá). Außerhalb des deutschsprachigen Raums wurden die beiden Wissenschaften oft als nicht ausdifferenzierter Teil einer neuen globalen Bewegung gesehen, in der die Theoretisierung von Sexualität im Mittelpunkt stand. Für viele Sexualwissenschaftler*innen blieb Freud primär ein Sexualwissenschaftler. Seine Theorie konnte ohne weiteres mit endokrinologischen, eugenischen oder kriminologischen Studien verbunden werden, um bestimmte Sexualpraktiken zu pathologisieren. Gleichzeitig konnte Freud als Literat oder Philosoph gelesen werden, oder als Vorreiter einer Theoretisierung sexueller Befreiung. Der Blick auf die internationale Rezeption Freuds als Sexualwissenschaftler deckt unerwartete polyglotte globale Genealogien auf.
Birgit Lang und Katie Sutton
(Ver-)Handlungsräume von Sexualwissenschaft und Psychoanalyse: englischsprachige Organisationen und Zeitschriften der Zwischenkriegszeit
Während die Differenzierung zwischen Psychoanalyse und Sexualwissenschaften in den 1920er-Jahren als einigermaßen festgeschrieben betrachtet werden kann, bot der englischsprachige Raum die Möglichkeit einer spannungsfreieren Zusammenführung der beiden Theoriefelder und die Kommunikation derselben mit einer breiten Leser*innenschaft. Anhand der beispielhaften Auswahl einer Reihe von Organisationen (British Society of Sex Psychology, Weltliga für Sexualreform), Zeitschriften (Psyche and Eros, Journal of Sexology and Psychoanalysis) und Figuren (insbesondere Wilhelm Stekel, Samuel Tannenbaum und William Robinson) verwendet dieser Beitrag den Begriff »(Ver-)Handlungsräume«, um diese Netzwerke und Übersetzungsleistungen – linguistischer, kultureller und interdisziplinärer Natur – darzustellen.
Heiko Stoff
»Die endokrine Formel. Psychoanalyse und Sexualhormonforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts«
Experimentalbiologischen Experimente zur Geschlechtsausbildung und -umwandlung, die in den 1910er-Jahren von dem Physiologen Eugen Steinach durchgeführt wurden und prägend für die Sexualhormonforschung waren, hatten großen Einfluss sowohl auf die sexualwissenschaftliche Theorie Magnus Hirschfelds als auch auf die psychoanalytische Theorie Sigmund Freuds. Für Hirschfeld belegten sie sowohl die juristisch so bedeutsame These einer homosexuellen Konstitution als auch die höchst flexible Theorie der sexuellen Zwischenstufen. Für Freud waren sie ein Beleg für die prinzipielle Bisexualität aller Geschlechtswesen, widersprachen aber seinem Entwicklungsmodell der sexuellen Objektwahl. Sexualhormonen kamen dabei bis Mitte des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle sowohl für die Erklärung der körperlichen Geschlechtsentwicklung als auch der psychischen Prägung zu. Obwohl entsprechende Versuche bestanden, psychische und somatische Prozesse im Konzept vegetativer Regulationen zu verbinden, gelang es weder neuroendokrinologischen noch psychosomatischen Forschungen, das »Leib-Seele-Geist-Problem« (Heinrich Meng) wirklich zu lösen.
Richard Kühl
Feuer und Blut. Zur Politisierung des Triebbegriffs nach 1918
Triebtheorien erlebten nach den entgrenzenden Gewalterfahrungen des Ersten Weltkriegs eine neue Attraktivität. Sie fungierten als regelrechte Welterklärungsinstrumente. Dominant blieb dabei jedoch das Denkmuster einer wesenhaften Naturalisierung von Geschlechterrollen, die ihre Ursprünge in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhundert hatten. In der Sexualwissenshaft zeigte sich dies besonders eindrücklich dann, wenn sie Triebtheorien in ein dialogisches Verhältnis zu solchen Lehren treten ließ, die herkömmliche Geschlechterbilder eigentlich offensiv zu unterlaufen versprachen. Dies setzte einer Politisierung des Triebbegriffs für pazifistische Zwecke enge Grenzen und ermöglichte eine heute kaum mehr verständliche, jedoch in der Kultur der Weimarer Republik fest verankerte Apologetik sexualisierter Gewalt. Auch die frühe Sexualforschung war dafür repräsentativ. Sie hatte flügelübergreifend der aggressiven Politisierung des Triebkonzepts, wie sie die radikale politische Rechte um 1930 als wirksames Instrument der Ästhetisierung des »Kriegserlebnisses« für sich entdeckte, wenig entgegenzusetzen.
Kevin Dubout
»Wer in aller Welt ist auf diese Weise homosexuell geworden?«
Die Rezeption der Psychoanalyse in der »Bibliographie der Homosexualität« des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen
Der Aufsatz befasst sich mit der frühen Rezeption der Psychoanalyse in der »Bibliographie der Homosexualität« des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen, des Publikationsorgans des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK). In der vom langjährigen WhK-Mitstreiter Numa Praetorius (Pseudonym von Eugen Wilhelm) betreuten Bibliographie wurde die Psychoanalyse, wie andere Gebiete der Wissensproduktion über Homosexualität aus dieser Zeit, aus sexualtheoretischer und sexualpolitischer Perspektive kritisch betrachtet. Neben dem Dissens in der Frage der Entstehung der Homosexualität, der zu einer kategorischen Zurückweisung der Konzepte und Methoden der Psychoanalyse führte, kritisierte Praetorius die Heilungsangebote und den in seinen Augen herabgesetzten Stellenwert, der den Aussagen und Erfahrungen der Betroffenen im psychoanalytischen Diskurs zukam. Obwohl sich die meisten Psychoanalytiker*innen gegen die strafrechtliche Verfolgung der Homosexualität aussprachen, hielt er die neue Disziplin insgesamt für emanzipationspolitisch kontraproduktiv.
Raimund Wolfert
In memoriam Magnus Hirschfeld.
Vom Bemühen, nach 1945 an Traditionen von vor 1933 anzuknüpfen und einen diskreditierten Namen zurück in den Diskurs zu bringen.
Das Beispiel Werner Becker
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Name Magnus Hirschfelds zwar keineswegs vergessen, jedoch gelang es in Deutschland, Ost wie West, lange nicht, an sein Werk anzuknüpfen. Dies versuchte der Arzt Werner Becker (1927–1980), als er seine Dissertation »Über die Ätiologie und Differentialdiagnose der Homosexualität« in West-Berlin vorlegte.
Becker war zudem mit etlichen homosexuellen Aktivisten vernetzt. Die vernichtende Kritik seiner Gutachter und homosexuellenfeindliche Tendenzen im Wissenschaftsbetrieb waren Hemmnisse für seine weitere wissenschaftliche Entwicklung. Becker wurde wegen »unerlaubter Handlungen« nach § 175 StGB auch mehrfach kriminalisiert. 1956 brach er alle Brücken ab, ging nach Kanada und ließ sich zum Psychoanalytiker ausbilden. Zehn Jahre später wurde er Leiter des Berliner Psychoanalytischen Instituts (BPI). Privat ging er eine Lebenspartnerschaft mit einer Kollegin ein. Über das Thema Homosexualität äußerte er sich fortan nicht mehr. Offenbar war die Abkehr von seinem ursprünglichen Forschungs- und Interessensgebiet die Voraussetzung für seinen Werdegang als Psychoanalytiker. Schlüssig ist vor diesem Hintergrund, dass etwa am BPI bis vor wenigen Jahren über Beckers Engagement in der Homosexuellenbewegung der frühen Nachkriegszeit nichts bekannt war.
Edith Schütz und Thomas Müller
»Psychoanalytische Abstinenz« in historischer Perspektive
Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist das Abstinenzprinzip und seine daraus abgeleiteten Behandlungsregeln für die psychoanalytische Technik, seine Bedeutung und Funktionen sowie diesbezügliche, inhärente Widersprüche und damit verbundene Herausforderungen. Der Beitrag bietet einen umfassenden historischen Überblick und bezieht sich hiernach insbesondere auf die Gegenwart psychoanalytischer Ausbildung. Beginnend mit dem historischen Ursprung der von Sigmund Freud zur Handhabung der sogenannten »Übertragungsliebe« erstellten Abstinenzregel im zeitgeschichtlichen Kontext, wird gezeigt, in welcher Weise das Abstinenzprinzip im historischen Verlauf den psychoanalytischen Prozess bzw. die psychoanalytische Praxis beeinflusste und dazu beitrug, den formalen Rahmen abzustecken, innerhalb dessen der/ die jeweilige Patient*in (Analysand*in) entweder die heilsamen Veränderungen in der Therapie oder der Lehranalyse erleben konnte, oder andererseits – durch unzweckmäßigen Einsatz von Regeln – eventuell hieran gehindert wurde. Zugleich soll verdeutlicht werden, inwiefern gerade die persönlichen Auffassungen und Interpretationen der jeweiligen historischen Autor*innen zur Anwendung behandlungstechnischer Regeln immer wieder zu scharfen Kontroversen in der Fachwelt geführt haben.
Paolo Raile
Die Causa Zentralblatt.
Machtstrukturen der frühen psychoanalytischen Community am Beispiel des Kampfes um ein bedeutendes Publikationsorgan
Macht existiert überall und in jeder Beziehung zwischen Menschen. Je umfangreicher das Netz der sozialen Beziehungen ist, desto komplexer sind auch die Machtstrukturen. Und nicht selten kommt es dabei zu Konflikten und Machtkämpfen.
Ein solches komplexes Machtnetz ist die psychoanalytische Bewegung der beginnenden 1910er-Jahre, die von zahlreichen Veränderungen wie der Gründung mehrerer Publikationsorgane und Konflikten wie denen Freuds mit Adler, Stekel oder Jung geprägt ist. Damals wurde das Zentralblatt als psychoanalytische Monatsschrift gegründet. Anhand der Geschehnisse rund um die kurze Existenz der Zeitschrift – mit den drei Schwerpunkten: Gründung, Freud-Adler-Kontroverse, Ausstieg Freuds als Herausgeber bzw. Stekels aus der WPV – werden formelle und informelle Machtstrukturen der psychoanalytischen Community in ihrer Anfangszeit betrachtet.
Marina d’Angelo
... e quindi uscimmo a riveder le stelle
Auf den Spuren von Dante in Freuds Werk
Es ist bisher wenig bekannt, dass Freud ein Kenner und Verehrter Dantes war und dass die Jenseitsreise, vor allem der Abstieg in die Hölle von Dante und Vergil, eine nicht unbedeutende Rolle der in Entstehung der Traumdeutung spielte, die bereits in ihrem Motto auf die Hölle verweist (Acheronta movebo!). Als zwanzigjähriger Student kaufte sich Freud in Triest ein Exemplar der Göttlichen Komödie auf Italienisch, 62 Jahre später, 1938, schenkte ihm eine Nichte eine zweibändige deutsche Edition. So begleitete ihn das Werk sein ganzes Leben hindurch. Die Jenseitsreise Dantes wurde zur Metapher für den schwierigen Durchbruch der Psychoanalyse und für die Selbstanalyse Freuds, wie der Briefwechsel mit Wilhelm Fließ zeigt, dem Freud eine ähnliche Begleiterrolle zuschrieb, wie sie Vergil bei Dante ausübte. Als Analytiker übernahm Freud später explizit selbst diese Funktion gegenüber seinen Patienten. In seinen Schriften finden sich etliche Zitate oder Verweise auf Dante, die in diesem Beitrag verfolgt und erläutert werden.