Luzifer-Amor
Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse
VIII. Internationaler Psychoanalytischer Kongress – 100 Jahre danach
Printausgabe – Heft 74, 37. Jg., 2/2024
Inhalt
Schwerpunkt:
VIII. Internationaler Psychoanalytischer Kongress – 100 Jahre danach
Gastherausgeber: Thomas Radauer
Editorial
Beitrag 1
Thomas Radauer
1924: Was damals in der Luft lag. Eine kleine psychohistorische Einordnung
Beitrag 2
Michael Schröter
Turbulente Vorgeschichte – friedlicher Ablauf:
Die Theorie-und-Technik-Diskussion auf dem Salzburger Kongress 1924
Beitrag 3
Helena Harper
»Fressen will ich dich«. Abrahams Oralitätsbegriff, eine Würdigung
Beitrag 4
Karl Fallend
1924ff. – Der Kampf um die Laienanalyse
Beitrag 5
Ulrike Körbitz
Das Hohelied auf die gesunde, reife, heterosexuelle Genitalität.
Wilhelm Reich revisited
Beitrag 6
Jutta Menschik-Bendele
Die Erschaffung der Frau und deren Abschaffung – Theodor Reik re-visited
Aus der Forschung
Beitrag 7
Helmut Bach
Persönliche Erinnerungen an Harald Schultz-Hencke.
Interview mit Sibylle Grüner (März 1992), herausgegeben von Werner Köpp und Michael Schröter
Beitrag 81
Jan Abram
Winnicott und die Britische Psychoanalytische Gesellschaft (1919–1971):
ein kurzer historischer Überblick
Kleine Mitteilungen
Thomas Aichhorn
Bemerkungen zur wissenschaftlichen Bibliothek August Aichhorns
Michele Lualdi
Der Briefwechsel Groddeck – Ferenczi: warum und wie ihn übersetzen
Benedikt Salfeld
Figurensammlung und Bilderverbot.
Bemerkungen zu Horst Bredekamps Freud-Studie (Buch-Essay)
Peter Theiss-Abendroth
37. Symposion zur Geschichte der Psychoanalyse 1.–3. März 2024
Hans-Joachim Rothe
Bericht über die 7. wissenschaftliche Konferenz des »Archivs zur Geschichte
der Psychoanalyse« e.V. am 22.11.2023 im Bundesarchiv Koblenz
In eigener Sache
Michael Schröter
Nachgeholte Erwiderung auf eine Kritik meines Buches in der Psyche
Rezensionen und Anzeigen
Thome (Hg.): Ludwig Klages/Friedrich Salomon Rothschild: Briefwechsel 1929–1956 (Kauders)
Naszkowska (Hg.): Early Women Psychoanalysts (Mühlleitner)
Lampe: Moritz Bendit und die Kuranstalt Neufriedenheim. Der Psychiater Ernst Rehm und sein jüdischer Patient (Hoffmann)
Parin, Morgenthaler & Parin-Matthèy: Fürchte Deinen Nächsten wie Dich selbst (Hoffmann)
Parin: Wissensflüsse. Korrespondenzen zur Ethnopsychoanalyse, Transkulturellen Psychiatrie und Psychoanalyse (Hermanns)
Hermanns (Hg.): Psychoanalyse in Selbstdarstellungen. Band XIV (Lacher)
Weitere Neuerscheinungen und Neuauflagen
1924: Was damals in der Luft lag. Eine kleine psychohistorische Einordnung
Im Zentrum des Artikels steht die Einordnung der Geschehnisse innerhalb der sich etablierenden Institutionalisierung der Psychoanalyse von 1908 bis zum Zeitpunkt der Tagung im April 1924. Ab 1922 drohte durch die zunehmenden Veränderungen der praktischen und theoretischen Ansichten von Otto Rank und Sandor Ferenczi ein Schisma zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Psychoanalyse in der breiten Öffentlichkeit sukzessive Ansehen erwarb. Zusätzlich wurde durch Freuds 1923 diagnostizierte Gaumenkrebserkrankung und seiner folgenden Absenz bei den Internationalen Psychoanalytischen Kongressen die mit den fachlichen Auseinandersetzungen amalgamierte Frage des/der Erben Sigmund Freuds an der Spitze der Psychoanalyse virulent. Und dann kam es zur groß angekündigten Diskussion am Salzburger Kongress im April 1924.
Michael Schröter
Turbulente Vorgeschichte – friedlicher Ablauf: Die Theorie-und-Technik-Diskussion auf dem Salzburger Kongress 1924
Eine Besonderheit des Salzburger Kongresses von 1924 war der Diskussionsnachmittag über das (von Freud formulierte) Thema »Das Verhältnis der psychoanalytischen Theorie zur psychoanalytischen Technik«. Ursprünglich hatten Ferenczi und Rank bei dieser Gelegenheit die technischen Neuerungen vorstellen wollen, die sie in ihrer Schrift Entwicklungsziele der Psychoanalyse dargelegt hatten; aber aufgrund des heftigen Widerspruchs, den sie vor allem in Berlin (Abraham) erfuhren, gaben sie die Absicht auf. Es sprachen dann, nach einer Einleitung von Jones, der eine verkappte Kritik an Rank lieferte, die drei Berliner Hanns Sachs, Sándor Radó und Franz Alexander. Aus ihren Beträgen werden diejenigen Passagen erörtert, die sich auf die aktuellen Auseinandersetzungen bezogen. Die Kritik blieb darin maßvoll; generell sind diese Beiträge gekennzeichnet durch das Bemühen, die Vorgänge in der psychoanalytischen Kur »metapsychologisch«, ohne Bezug auf die Praxis zu beschreiben. Nach dem Kongress herrschte allgemeine Erleichterung, dass der befürchtete Krach vermieden worden war.
Helena Harper
»Fressen will ich dich.«
Abrahams Oralitätsbegriff, eine Würdigung
Abrahams Oralitätskonzept steht im Zentrum dieses Beitrags: 1911 stellt er die erste psychoanalytische Theorie zur Entstehung der Melancholie vor, die er später (1916) als Regression auf die oral-kannibalistische Stufe versteht. 1924 zeichnet er den Reifungsprozess der Libido nach und beschäftigt sich in der Folge (1925) mit oralen Charaktermerkmalen. Im klinischen Teil wird der Traum einer Patientin, die unter oral-kannibalistischen Reminiszenzen litt, anhand Abrahams Konzept diskutiert.
Karl Fallend
1924ff. – Der Kampf um die Laienanalyse
Um die Mitte der 1920er-Jahre, mit der Hiobsbotschaft von Freuds Krebsdiagnose, war eine Endzeitstimmung in der Psychoanalytischen Vereinigung virulent, die sich besonders in der Machtfrage um die Laienanalyse konzentrierte. In keiner Angelegenheit musste Freud einen derartig massiven Widerspruch aus den eigenen Reihen hinnehmen. Um den Kongress in Salzburg 1924 und die Jahre danach war Freud besonderen Angriffen ausgesetzt, gegen die er sich vehement zur Wehr setzte: u. a. der Ausschluss der Sozialarbeiterin Caroline Newton aus der New Yorker Vereinigung, die Ermordung der Kinderanalytikerin Hermine Hug-Hellmuth durch ihren Neffen und die Anklage gegen den Laienanalytiker Theodor Reik wegen des Kurpfuschereigesetzes. Im Zentrum meiner Ausführungen steht der Laienanalytiker August Aichhorn, der noch viele Jahre nach 1945 die Geschicke der Psychoanalyse in Österreich prägte und dessen Lehren bis heute von Bedeutung sind.
Ulrike Körbitz
Das Hohelied auf die gesunde, reife, heterosexuelle Genitalität. Wilhelm Reich revisited
Auf dem VIII. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Salzburg 1924 präsentierte sich der damals 27-jährige Arzt und Psychoanalytiker Wilhelm Reich als Pionier der empirischen Sexualforschung. In seinem Vortrag »Weitere Bemerkungen über die therapeutische Bedeutung der Genitallibido« skizziert er eine libidotheoretisch begründete Diagnostik zum vorliegenden Stand der Genitalorganisation und kommt zum Schluss, nur im Falle des Erreichens der »vollen orgastischen Potenz« im Rahmen des Koitus könne bei beiden Geschlechtern von erfolgter Heilung durch Psychoanalyse gesprochen werden. Im letzten Teil ihres Artikels kommt die Referentin auf gegenwärtige, paradoxe Phänomene bzw. Diskurse rund um Sexualität, Geschlecht, Identität usw. zu sprechen.
Jutta Menschik-Bendele
Die Erschaffung der Frau und deren Abschaffung – Theodor Reik revisited
Reik geht von zwei Textstellen der Genesis aus. In der ersten schafft Gott die Menschen (Mann und Frau) gleichzeitig. In der zweiten, kurz darauffolgenden Stelle kreiert Gott erst den Adam und dann aus dessen Rippe die Frau. Der Autor erklärt, dass hier verschiedene Quellen zusammengesetzt wurden. Seine originelle Interpretation der Entstehung des ersten Menschenpaares führt zu dem Ergebnis, dass im Alten Testament ein Initiationsritus beschrieben wird, nach dem Adam als erwachsener Mann »wiedergeboren« wird. Eva hingegen habe bereits (als Muttergöttin) existiert. Mich interessierte, die beiden sich widersprechenden Genesis-Texte im Hinblick auf die historische und aktuelle Situation der Frauen zu betrachten.
Jan Abram
Winnicott und die Britische Psychoanalytische Gesellschaft (1919–1971): ein kurzer historischer Überblick
Ziel dieses Aufsatzes ist es, einen kurzen Überblick über Winnicotts Position in der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft zu geben, beginnend mit seiner frühen Entdeckung der Psychoanalyse im Jahr 1919 bis hin zum Höhepunkt seiner psychoanalytischen Innovationen (1960–1971). Anhand seiner Schriften, Arbeitstagebücher und Fallnotizen wird die Entwicklung seines Denkens im Kontext der »controversial discussions« und der kleinianischen Entwicklung (1942–1960) untersucht. Ich behaupte, dass der Einfluss seiner beiden Analytiker, James Strachey (1923–1933) und später Joan Riviere (1935–1940), Winnicotts Ablehnung des Konzepts des Todestriebes, das er als Ursache für die »negative therapeutische Reaktion« ansieht, bewirkt hat. In seinem Spätwerk glaubte Winnicott, eine Lösung für das »Problem der Aggression« gefunden zu haben, die er in seinem Aufsatz »The Use of an Object« (1968) herauskristallisierte. In Bezug auf falsche Vorstellungen von Winnicotts Analyse von Masud Khan werden Belege aus dem Winnicott-Archiv vorgelegt, die zeigen, dass die Dauer der Analyse entgegen Khans Behauptungen nur etwas mehr als zwei Jahre betrug.
Thomas Aichhorn
Bemerkungen zur wissenschaftlichen Bibliothek August Aichhorns
Am 26. September 2023 fand anlässlich der Übernahme der wissenschaftlichen Bibliothek August Aichhorns in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung ein Festakt statt. Mit dem vorliegenden Vortrag informierte ich darüber, was mit Büchen des Internationalen Psychoanalytischen Verlags und der Bibliothek der Wiener Vereinigung 1938 geschehen ist. Der größte Teil wurde vernichtet, aber ein kleinerer Teil blieb in der Wiener Nationalbibliothek erhalten. Der Liquidator von Verlag und Vereinigung, A. Sauerwald, hatte sie dort deponiert. Im Weiteren beschrieb ich die mühevolle Rückstellung der Bücher, die letztlich an Anna Freud geschickt wurden. Ein kleiner Teil ist in Wien, in der Bibliothek Aichhorns, geblieben. Schließlich schilderte ich die Übernahme dieser Bibliothek durch mich selbst.