Luzifer-Amor
Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse
Georg Groddeck
Printausgabe – Heft 76, 38. Jg., 2/2025
Inhalt
Editorial
Nachruf
Michael Schröter über Thomas Aichhorn
Schwerpunkt:
Georg Groddeck
Michael Giefer
»... ein Gegenstand liebender Wut u. wütender Liebe.«
Sechzehn Briefe zu Groddecks 60. Geburtstag
Georg Groddeck
Widerstand gegen die Obrigkeit. Ein Schreiben an die kgl. Kommission
Michele M. Lualdi
Georg Groddeck auf dem VI. Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (Den Haag, 1920)
Gérard Maria Kever
Auf der Suche nach der Seele:
Kulturentstehung zwischen Triebverzicht (Freud) und Triebglück (Groddeck)
Aus der Forschung
Herman Westerink
Die traumatische Neurose und die biologischen Spekulationen in der Erst- und Zweitfassung von Freuds Jenseits des Lustprinzips
Stefan Goldmann
»Freud war anders«. Ansätze zu einer Philologie des Zitats
Erwin Kaiser
Erkenntnistheoretische Aspekte von Freuds Sprachauffassung
Stefan Goldmann
Reinhold Stahl (1904−1944). Kunstschriftsteller und Antiquar
Matt ffytche
Widerstand, Panzerung, Rückzug:
Der psychoanalytische Krieg gegen den Charakter
Christian Arnezeder
Marie Jahoda und ihr Beitrag zur Psychoanalyse
Ana Tomčić
Trauma, Gemeinschaft und Gesellschaft in der Psychoanalytischen Pädagogik von Nelly Wolffheim
Kleine Mitteilungen
Christiane Ludwig-Körner
Vernissage − erste Freud-Vitrine lost & found in der Internationalen Psychoanalytischen Universität
Marco Conci
38. Symposion zur Geschichte der Psychoanalyse.
28. Februar bis 2. März 2025
Rezensionen und Anzeigen
Hemecker u. Paulus (Hg.): Sigmund Freud − Christian von Ehrenfels: Briefwechsel (Herrn)
Franzen u. Weinke: Der Fotograf Max Halberstadt (Schröter)
Gabarron-Garcia: Histoire Populaire de la Psychanalyse (Füchtner)
Lacher: Macht, Geschlecht und Angst − Tiefenhermeneutische Rekonstruktion psychoanalytischer Institutsgeschichten (Hoffmann)
Dietrich u. Fossel (Hg.): Gruppenpsychoanalyse − Theorie, Geschichte und Praxisfelder der gruppenanalytischen Methode (Hoffmann)
Hermanns u. Schultz-Venrath (Hg.): Gruppenanalyse in Selbstdarstellungen, Teil 2 (Gorvin)
Weitere Neuerscheinungen und Neuauflagen
Michael Giefer
»… ein Gegenstand liebender Wut u. wütender Liebe!« Sechzehn Briefe zu Groddecks 60. Geburtstag
Im Oktober 1926 beging der Arzt und Psychoanalytiker Georg Groddeck, der als erster die psychoanalytische Methode in der Behandlung organisch Erkrankter benutzte, seinen 60. Geburtstag. Obwohl er ein Außenseiter in der psychoanalytischen Bewegung war, am organisierten Vereinsleben kaum teilnahm und die Nomenklatur der Psychoanalyse kaum anwendete, erhielt er von einer ganzen Reihe seiner Kollegen (Ferenczi, Freud, Simmel, Landauer, Boehm u. a.) Gratulationsschreiben. In den hier abgedruckten 16 Briefen wird Groddeck wegen seiner Originalität, seinen bahnbrechenden Anregungen und seinem Mut gelobt. Dennoch wird er in der psychoanalytischen Literatur der 1920er-Jahre und der späteren Zeit nur sehr selten erwähnt.
Michele M. Lualdi
Georg Groddeck auf dem VI. Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (Den Haag, 1920)
»Ich bin ein wilder Analytiker« ist ein sehr berühmter Satz Groddecks auf dem VI. Internationalen Psychoanalytischen Kongress. Wenig bekannt ist die ursprüngliche Quelle dieser Anekdote. Wenn wir sie aber nicht kennen, wie können wir wissen, ob Groddeck diesen Satz wirklich sagte? Man muss die Dokumente (Briefe, Schriften) und die Biografien von Freud und Groddeck befragen, um eine Antwort zu finden. Dank dieser Forschung kann man sehen, dass die Biografien nicht immer genau sind und dass der Satz Groddecks neben der bekannteren Bedeutung der Provokation in Bezug auf das Thema der wilden Analyse auch eine andere Bedeutung hat, die auf die Beziehung zwischen Groddeck und Freud zurückführt.
Gérard Maria Kever
Auf der Suche nach der Seele: Kulturentstehung zwischen Triebverzicht (Freud) und Triebglück (Groddeck)
Der Beitrag beschäftigt sich mit Freuds Verhältnis zum Bildnis der »Sixtinischen Madonna« (1512) von Raffael di Urbino. Freud kannte das Gemälde schon als Siebenundzwanzigjähriger und wurde (spätestens) siebzehn Jahre danach durch seine Patientin Ida Bauer erneut mit dem Bild auf besondere Weise konfrontiert. Die Vermutung liegt nahe, dass sich Freud mit einer Doppeldeutigkeit des Bildes (Vexierbild) mehr auseinandergesetzt haben muss, als er zuzugeben bereit war. Sein Gefolgsmann Georg Groddeck war es dann schließlich, der das erste Mal deutliche Worte über das Vexierbild und damit den geschlechtlichen Aspekt von Raffaels Gemälde fand. Im vorliegenden Text wird die Frage aufgeworfen, ob oder warum die psychoanalytische Bewegung der Botschaft des Vexierbild in der Madonna bisher nicht mehr Beachtung geschenkt hat.
Herman Westerink
Die traumatische Neurose und die biologischen Spekulationen in der Erst- und Zweitfassung von Freuds Jenseits des Lustprinzips
Ausgangspunkt dieses Aufsatzes ist die Tatsache, dass Freud Jenseits des Lustprinzips in zwei Phasen schrieb und die Konzepte der Lebens- und Todestriebe erst in der zweiten Fassung des Manuskripts formulierte. Es wird die These vertreten, dass Freud die letztere Theorie einführte, um für ihn inakzeptable Implikationen seiner Argumentation in der ersten Fassung des Textes zu korrigieren. Hier war die traumatische Neurose das Modell für evolutionsbiologische Spekulationen, und spezifische biologische Theorien spielten eine entscheidende Rolle. Das ändert sich in der zweiten Fassung des Textes radikal, vor allem mit der Einführung der »Lebenstriebe«. In den zwei Fassungen des Textes positioniert sich Freud auf unterschiedliche Weise in Debatten der Lebenswissenschaften seiner Zeit, in denen mechanistische und vitalistische Theorien entwickelt werden, um sowohl phylogenetische als auch ontogenetische Veränderung, Entwicklung, Zweckmäßigkeit und Finalität zu denken und erklären.
Stefan Goldmann
»Freud war anders«. Ansätze zu einer Philologie des Zitats
Zitate und Topoi, die Freud den Schriften des Physiologen Emil du Bois-Reymond und des Philosophen Ludwig Feuerbach entnommen hatte, werden in ihrer Genese, Überlieferung, Bearbeitung und Funktion untersucht. Dabei werden verschiedene Spielarten des Zitatgebrauchs herausgearbeitet wie Ironisierung, Dramatisierung und Veranschaulichung, aber auch literarische Steigerung selbstreflektierten Lebens. Als »Künstler des Zitats« ist Freud schließlich in die Tradition der deutschen Wissenschaftsprosa des 19. Jahrhunderts einzureihen, die die heutige strenge Trennung von Sachprosa und artistischer Schreibweise so noch nicht kannte.
Erwin Kaiser
Erkenntnistheoretische Aspekte von Freuds Sprachauffassung
In diesem Beitrag wird versucht, die Bedeutung der Formel von Wortvorstellung und Sachvorstellung als Grundlage von Freuds Sprachauffassung zu verstehen. Ihr Ursprung findet sich in der Aphasien-Monographie von 1891. Diese Formel bildet später die Grundlage für die Theorie des Unbewussten und wird durch das gesamte Werk Freuds unverändert beibehalten. Eine Untersuchung der Aphasien ergibt, dass Freud dort in Anlehnung an Hughlings-Jackson die Physiologie der Sprache von ihrer Psychologie trennt – und im nächsten Schritt wieder verbindet. Aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive werden die Grenzen von Freuds Sprachauffassung beschrieben: Sie ist referentialistisch, beschränkt auf Substantive, auf Wörter im Gegensatz zu Aussagen in Sätzen. In Freuds grafischen Darstellungen in den Aphasien und im Entwurf lassen sich drei Sprachauffassungen unterscheiden: Eine physiologische, eine psychologische und eine klinische. Als Ergebnis lässt sich Freuds Sprachauffassung weder als physiologische noch als psychologische verstehen, sondern als eine der Physiologie entlehnte Metapher. Am Schluss wird die Frage gestellt, ob sich diese Perspektive auf die gesamte Metapsychologie übertragen lässt.
Stefan Goldmann
Reinhold Stahl (1904–1944) – Kunstschriftsteller und Antiquar
Der Aufsatz erinnert an das Schicksal des Berliner Antiquars Reinhold Stahl, der 1936 Freuds Briefe an Wilhelm Fliess erworben hatte und an Marie Bonaparte weiterverkaufte. Schon als Jugendlicher wuchs er in die Berliner Kulturszene hinein, gründete ein Antiquariat, schloss sich der Buchkunstbewegung an und handelte sowohl in Berlin als auch in Paris mit Büchern und Autographen. Anhand von Auktionskatalogen wird die Zusammensetzung des Teilnachlasses, den Stahl von Conrad Fliess übernommen hatte, rekonstruiert. Nach dem Verkauf der aufgeteilten Sammlung emigrierte Stahl nach Italien, wo er nach dessen Kriegseintritt in Civitella del Tronto interniert wurde. Ein Briefwechsel aus dieser Zeit mit dem Dresdener Zoologen Klaus Günther enthält seine Meditationen über die herrschenden Zustände und ihre dichterische Verarbeitung. Erwähnung findet darin auch der anhaltende freundschaftliche Kontakt zu Marie Bonaparte, die Stahl vor der Deportation nach Auschwitz nicht bewahren konnte. In einem Anhang werden die frühesten Freud-Autographen, die in den Antiquariatshandel gelangt sind, aufgeführt und als neue Quellen gewürdigt.
Matt ffytche
Widerstand, Panzerung, Rückzug: Der psychoanalytische Krieg gegen den Charakter
Das Interesse am »Charakter« scheint in der Geschichte der Psychoanalyse eher eine Randerscheinung zu sein. Und doch stand in den 1920er- bis 1950er-Jahren die Aussicht auf eine vollständige »Charakterologie« im Zuge der Hinwendung zur Ich-Psychologie, aber auch als Schwerpunkt der klinischen Technik für Wilhelm Reich, Otto Fenichel und andere im Vordergrund. Dieser Beitrag greift insbesondere auf Reichs umfangreiches Werk Charakteranalyse und verwandte Arbeiten zurück, um die Natur einer bedeutenden Wende in der psychoanalytischen Praxis nachzuzeichnen. Dazu gehörte eine Hinwendung von den Symptomen zur psychischen Struktur des Individuums als Ganzes und von den unbewussten Wünschen zu den Abwehrmechanismen. Vor allem aber entstand in dieser Verlagerung des Schwerpunkts in den 1920er-Jahren ein Krieg gegen den Charakter des Patienten, der die Praxis als Schlachtfeld gegen einen Patienten festigte, dessen Pathologie in seinem Widerstand gegen die Analyse begründet war. Daraus ergeben sich eine neue professionelle Einstellung des Analytikers und ein neuer klinischer Typ, der narzisstische Charakter. Im Laufe dieser Untersuchung komme ich jedoch immer wieder auf folgende Frage zurück: Was bedeutete es, eine Theorie des Charakters und eine Technik zu seiner Demontage zu entwickeln, ohne sich dabei auf einen Dialog mit den vorherrschenden Charaktertheorien anderer Disziplinen einzulassen oder sich Gedanken darüber zu machen, wie Charakter in einer breiteren Welt moralischer und sozialer Beziehungen umgesetzt wird?
Christian Arnezeder
Marie Jahoda und ihr Beitrag zur Psychoanalyse
Die aus Österreich stammende Sozialpsychologin Marie Jahoda hat sich neben ihrer akademischen Tätigkeit zeitlebens mit Freud und der Psychoanalyse auseinandergesetzt und dazu verschiedene Arbeiten verfasst, darunter zwei Bücher mit Bezug zur Psychoanalyse. Das eine mit dem Psychoanalytiker Nathan W. Ackerman zum Antisemitismus und dann nach ihrer Emeritierung ein Buch »Freud und das Dilemma der Psychologie«, in dem sie untersucht, wie die Psychoanalyse die Unzulänglichkeiten der akademischen Psychologie beheben helfen könne. Auch den Transfer der Psychoanalyse in den anglo-amerikanischen Raum hat sie betrachtet. Zu diesen Themen existieren noch kleinere Arbeiten. So wie sie als Person und Wissenschaftlerin bis heute Aufmerksamkeit auf sich zieht, so sind auch ihre Arbeiten zur Psychoanalyse mit Bezug zu heute noch anregend.
Ana Tomčić
Trauma, Gemeinschaft und Gesellschaft in der Psychoanalytischen Pädagogik von Nelly Wolffheim
Nelly Wolffheim ist vor allem dafür bekannt, dass sie in den 1920er-Jahren den ersten psychoanalytisch orientierten Kindergarten in Berlin gegründet hat. In der Geschichte der Psychoanalyse werden meistens ihre Versuche erwähnt, die Psychoanalyse mit der praktischen Arbeit mit kleinen Kindern zu verbinden. Dieser Artikel möchte das Interesse an Wolffheims Arbeit erweitern, indem er sie im Kontext der Ideen zur Gemeinschaftserziehung betrachtet, die in der Zwischenkriegszeit sowie in den 1960er- und 1970er-Jahren entwickelt wurden. Außerdem werden Wolffheims Arbeit und ihre theoretischen Ansätze mit denen anderer Psychoanalytiker wie Melanie Klein, Anna Freud, Melitta Schmideberg und Bruno Bettelheim verglichen. Die Parallelen zwischen Wolffheims Methoden und denen von David Wills, der eine Reihe von therapeutischen Gemeinschaften für »schwierige« Kinder und Jugendliche im Vereinigten Königreich gründete und mit dessen Arbeit Wolffheim gut vertraut war, werden auch diskutiert.